Oneiros: Tödlicher Fluch
richte die Leichen entsprechend her.«
»Sehr gut.«
»Ich muss anmerken, Frau von Windau, dass ich bis zum Eintreffen der neuen Arbeitskräfte nicht mit meinen Forschungen fortfahren kann. Zu viele Patienten haben durch den Zwischenfall auf Station sieben ihre medizinischen Betreuer und Stationsärzte verloren. Natürlich bin ich grob im Bild, aber die Details …« Er sah sie entschuldigend an.
Kristin zwang sich zur Ruhe; in ihrer Vorstellung zerschlug sie dem behäbigen Smyrnikov das Gesicht. Weil er es nicht verstand: Es ging um ihre verrinnende Zeit, ihren nachlassenden Verstand, ihre tödliche Insomnie und ein gut bestelltes Haus für ihren Sohn. Sie hatte keine Sekunde zu verschenken, und doch tat Smyrnikov genau das. »Sicher, Professor. Das verstehe ich«, gab sie leise und beherrscht zurück, während sie sich erhob. »Ich m-m-mache mich auf den Weg und suche unter den T-t-todesschläfern nach einem Ersatz für P-p-patient 22 .« Die Worte verhedderten sich in ihrem Mund.
»Es sind noch zwei gute Körperspender im Tiefschlaf eingelagert, Frau von Windau. Wir brauchen nur ein Hirn, das wir ihnen einsetzen können. Immer bereit, wie wir bei den Pionieren zu sagen pflegten.«
Kristin konzentrierte sich stärker auf das, was sie laut sagte, um Hänger zu vermeiden. »Gut. Vermutlich bin ich zurück, wenn Sie das neue Personal eingearbeitet haben.«
Sie reichten sich die Hände, und Kristin verließ den Besprechungsraum.
Ihr Weg führte sie durch einen nüchternen Gang, vorbei an Türen, die zu Maschinenräumen für die Fahrstühle führten, zu den Generatoren, zur Klimaanlage, zu den Kernspin- und CT -Geräten. Der warmen Luft haftete ein elektrischer, klinischer Geruch an, und sie musste wieder an den penetranten Maisgestank denken.
Das war ihr noch nicht begegnet. Alle Todesschläfer lockten den Tod an, sobald sie einschliefen und Theta-Wellen erzeugten. Aber damit endeten häufig die Gemeinsamkeiten. Für alles, was danach geschah, gab es kaum Gesetzmäßigkeiten, außer den Tod der Umgebenden.
»Mais«, sagte sie leise und schüttelte den Kopf, die braunen Haare flogen um ihr Gesicht, eine Strähne kitzelte sie an der Nase. »Wieso denn Mais?« Ihr wurde übel, sobald sie daran dachte. »Verstehe einer den Gevatter.«
Um sich abzulenken, überlegte sie, wie sie die Suche nach dem nächsten Kandidaten anging. Es würde Zeit in Anspruch nehmen, da nicht wenige der geheimen Organisationen der Todesschläfer inzwischen wussten, dass jemand Jagd auf sie machte, und entsprechend vorsichtig geworden waren.
Es gab sogar vereinzelte Gerüchte, dass sie mit dem Verschwinden der Männer und Frauen in Verbindung stand, aber niemand konnte ihr etwas beweisen. Sollte herauskommen,
was
sie mit den Entführten anstellte, wäre sie geliefert.
Kristin blieb vor einer Tür stehen, auf der
Cryo
geschrieben stand.
Sie gab einen Öffnungscode in das Tastenfeld daneben ein, legte die rechte Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter.
In dem Raum standen fünf tankartige Gebilde in verschiedenen Größen, mit blauem Plastik ummantelt. Dicke Kabel waren an unterschiedliche Buchsen der Tanks angeschlossen und führten von dort zu einem weiteren kleinen Raum, dem Rechen- und Überwachungszentrum, mit eigener Stromversorgung und gegen Ausfälle dreifach gesichert.
Kristin ging zum vordersten Tank, auf dem in Englisch und in kyrillischer Schrift verschiedene Warnungen geschrieben standen, weder etwas abzuschalten noch etwas zu verändern.
Die Beschriftung darunter lautete:
+ + +
FRIEDRICH WENZESLAF EUGEN KAROL VON WINDAU
GEBOREN: 1922
GESTORBEN: –
+ + +
Sie kam oft hierher, um nach ihrem Vater zu sehen, auch wenn sich ihre Treffen darauf beschränkten, dass sie vor ihm stand und eine Hand an die Isolierung des Tanks legte. Sie begann mit einem stummen Gebet, in dem sie um Kraft für seine tiefgefrorene Seele bat, die diesen Zustand nun schon seit zehn Jahren aushalten musste. »Hallo, Papa«, flüsterte sie. Ihre Rechte berührte das Plastikblau.
Sie konnte ihm nie sagen, wie lange er noch bei minus hundert Grad im Tank liegen musste, bis sie eine Heilung der Insomnie mittels Stammzellen gefunden hatte. Dabei hatte er sich so sehr gewünscht, seinen Enkel zu sehen.
»Eugen ist groß geworden«, erstattete sie Bericht, als würde der erstarrte Mann mit dem durch und durch gefrorenen, von der Krankheit stark angegriffenen Hirn etwas hören. »Er sieht dir immer ähnlicher, vor allem die Kinnpartie.
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