Oneiros: Tödlicher Fluch
überlegte und kam zu dem Schluss, dass sein Schiff gemeint war. »Was sollte die
Vanitas
damit zu schaffen haben?«
»Das
Motiv
der Vanitas, nicht dein Boot. Zeichen für die Vergänglichkeit, für die Nichtigkeit des menschlichen Lebens und der Eitelkeit«, referierte Jester. »Die Meister des Barocks verewigten immer wieder bestimmte Symbole auf ihren Gemälden, die für Verfall standen. Als ich mich näher damit beschäftigte, stolperte ich über eine Legende. Die Legende der Gevattersteine.«
Gevatterstein.
Beinahe sofort entstanden Bilder vor Konstantins Augen, ein schwerer Mühlstein, der einen Menschen unter sich begrub, Felssteine am Wegesrand, die vor Gefahrenstellen warnten, an denen der Tod besonders gerne lauerte. Er war fasziniert von Jesters Erzählung.
Wie lange weiß er davon schon?
Wieder fuhr sich der Brite über den Seitenscheitel. »Kaum wusste ich, wonach ich suchen musste, entdeckte ich viele Hinweise, vor allem in Erbschaftsaufzeichnungen und Testamenten. Da ich bald verstand, auf
was
ich zu achten hatte, fiel es mir leicht, Spuren dieser Steine bis in die Gegenwart zu verfolgen.«
Konstantin hing an jedem Wort, das seinem Gegenüber von den Lippen sprang.
Hatte er nicht betont, er wäre erfolglos geblieben?
»Well, well. Man nennt sie auch Schnitterring, Todesstein, Endlichkeitsamulett und Vanitasmedaillon, im Englischen
reaper’s ring
und
deathgem,
im Französischen auch
gemme mortelle.
Mit diesen Begriffen werden Schmuckstücke bezeichnet, die angeblich den Tod anziehen. Meistens sind sie mit einem bestimmten Edelstein und einem Vanitas-Symbol versehen.« Jester stellte seine Tasse auf den kleinen Tisch neben Konstantins Bett. »Diese wiederum findest du auch auf alten Gemälden und Darstellungen. Hat man erst ein Auge für die Symbolik, fällt sie einem beinahe überall auf. Es gibt eine Vielzahl von Zeichen.«
»Du hast dir solche Schmuckstücke besorgt!«
»Richtig gefolgert. Meinen Glückwunsch.« Jester salutierte spielerisch. »Ich legte mir eine ganze Sammlung zu, um den Wahrheitsgehalt der Legenden zu prüfen, die sich um die einzelnen Schmuckstücke rankten.«
»Was wolltest du mit Ringen, die den Tod anziehen? Dazu musst du nur einschlafen.«
»Ich vermutete, dass ihre Funktion für einen Todesschläfer anders wäre.«
»Verstehe ich nicht.«
Jester nahm die Mineralwasserkanne und schüttete Wasser in seine Tasse, trank davon. »Ich traf einen alten Todesschläfer, einen Inder. Er erzählte mir ein Märchen, in dem Kali Schmuckstücke verschenkt, mit denen sie unsere Art für sich sichtbar machen kann. Die Steine oder das Schmuckstück als solches dienen der Göttin als Leuchtfeuer. Sie sieht uns dadurch und ist beruhigt, weil sie uns jederzeit holen kann. Wie einen gewöhnlichen Menschen. Sterblich.«
»Und wir könnten unbesorgt einschlafen!« Kali war für Konstantin nur ein weiterer Begriff für den Tod. Eine seiner vielen Personifizierungen, obwohl der Schnitter niemals in einer festen Gestalt erschien, erst recht nicht als Kapuzenmann mit Sense; das hatten er und Jester durch ein paar Versuche überprüft. Für Todesschläfer manifestierte er sich in Geräuschen und Gerüchen. »Einschlafen, wie herrlich! Wo auch immer, wann auch immer.« Er sah Jester freudig an.
Neben Iva!
Doch das unverändert ernste Gesicht seines Freundes dämpfte seine Euphorie. »Sag mir bitte nicht, dass es nur ein Märchen ist.«
»Der Inder erzählte auch, dass die Göttin rasend wird, wenn man das Amulett jemals wieder abnimmt. Der Bruch des Paktes mit ihr sei das Schlimmste, was man tun könne, und ließe sie nur umso ärger wüten. Ob es stimmt, wer weiß?« Er sah aus dem Fenster. »Mir gefiel der Ansatz. Ich leitete daraus die Theorie ab, dass manche Todesschläfer gar nicht wussten, was sie waren und welche Art Schmuck sie trugen, bis sie vom Tod geholt wurden. Stell dir vor, wie lustig der Gevatter es finden muss, wenn man sich aus Versehen für ihn sichtbar macht und stolz den neuen Brillanten am Ring trägt.«
»Oder man weiß, was der Schmuck bewirkt, und verschenkt ihn absichtlich an seine Feinde.« Konstantin grinste.
Jester lachte leise. »Ich trug sie
alle,
um zu sehen, was geschieht. Ob er sich … materialisiert, oder ob ich einen Geruch wahrnehme. Ein Geräusch. Irgendein Zeichen.« Er seufzte wieder. »Ich sah aus wie eine bekennende Obertunte: eine Million Ringe und Medaillons und Broschen. Aber nichts. Er kam nicht zu mir.«
»Wie lange hast du sie
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