Oneiros: Tödlicher Fluch
Jester war. »Ja?«
»›The true mystery of the world is the visible, not the invisible‹«, kam es in mustergültigem
British English
aus dem Hörer. »So, alter Knabe, möchtest du mit mir das Sichtbare namens Bent Arctander jagen?« Jester klang zuversichtlich.
»Ich denke nicht.« Konstantin kam es vor, als ob sich seine Stimme anders anhörte als sonst. Ablehnend und zurückhaltend. »Ich suche ihn, aber ich habe ein paar Spuren, denen ich erst mal allein nachgehen will. Ich hatte übrigens eine nette Unterhaltung mit einem Mann namens Thielke.«
»Thielke? Wer soll das denn sein?«
»Der Besitzer des LeMat.«
Jester holte tief Luft. Konstantins Alleingang schien ihm nicht zu gefallen. »Well, well. Du bist wieder einmal der Einzelkämpfer. Aber halte mich auf dem Laufenden, bitte.«
»Was Neues von der Baronesse?«
»Nein«, schnarrte er.
»Und von den Indern?« Er konnte nicht anders, als den Haken auszuwerfen.
Und Jester biss an. »Ja, ich habe erfahren, dass die
Thuggee Nidra
ein Team zusammenstellen. Das macht es natürlich noch schwieriger für uns. Wenn Arctander merkt, wie viele Leute ihn jagen, bekommt er einen Anfall nach dem nächsten, und was das bedeutet, alter Knabe, weißt du.«
Du Lügner! Lass doch endlich deine Geheimdienstscheiße. Demnächst sage ich ihm deswegen die Meinung. Aber erst, wenn ich ihm genüsslich neue Informationen zu Arctander präsentieren kann.
»Na, dann viel Glück bei der Jagd.«
»Dir auch.«
Klick.
Eingeschnappt. Typisch.
Konstantin schickte ihm kommentarlos die Bilder, die er von Thielke geschossen hatte. Danach lenkte er das Boot durch die Kanäle und steuerte die Schleuse an. Dort ließ er das Boot mit ausgeschaltetem Motor in die Schleuse treiben, die man von Hand bediente. Es wurde leise um ihn herum.
Die Stille erinnerte ihn an Notre-Dame, an seinen Besuch als letzter Gast an Lilous Sarg. Die wunderschöne junge Frau trug den blauen Diamanten um den Hals, der ihn mit seinem Funkeln lockte. Das brachte seine Gedanken wiederum zu den Schnittersteinen.
Das darf ich nicht aus den Augen verlieren.
Er spürte Ivas Brief in der Jackentasche, hörte ihn leise knistern. Ein sanfte Erinnerung.
Konstantin dachte an sie, an ihre Worte, an die Märchen, auf deren Spur sie und Jester ihn mit ihren dahingesagten Worten gebracht hatten. Noch wollte er nicht an einen Erfolg glauben, doch er durfte die Spur nicht einfach abtun, ohne sie zu prüfen.
Wie untersucht man uralte Geschichten auf ihren Wahrheitsgehalt? Das ist total bescheuert.
Er seufzte. Wenn er sich um seinen Flug nach Marokko gekümmert hatte, würde er sein altes Märchenbuch aus dem Schrank suchen, das auf einer der ursprünglichen Ausgaben der Gebrüder Grimm basierte.
Egal. Ist es eben bescheuert. Mal sehen, welche Spuren der Schnitter darin hinterlassen hat.
Der Gevatter Tod
Es hatte ein armer Mann zwölf Kinder und mußte Tag und Nacht arbeiten, damit er ihnen nur Brot geben konnte.
Als nun das dreizehnte zur Welt kam, wußte er sich in seiner Not nicht zu helfen, lief hinaus auf die große Landstraße und wollte den ersten, der ihm begegnete, zu Gevatter bitten.
Da kam der dürrbeinige Tod auf ihn zugeschritten und sprach: »Nimm mich zum Gevatter.«
Der Mann fragte: »Wer bist du?«
»Ich bin der Tod, der alle gleichmacht.«
Da sprach der Mann: »Du bist der Rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann sein.«
Der Tod antwortete: »Ich will dein Kind reich und berühmt machen; denn wer mich zum Freunde hat, dem kann’s nicht fehlen.«
Der Mann sprach: »Künftigen Sonntag ist die Taufe, da stelle dich zu rechter Zeit ein.« Der Tod erschien, wie er versprochen hatte, und stand ganz ordentlich Gevatter.
Als der Knabe zu Jahren gekommen war, trat zu einer Zeit der Pate ein und hieß ihn mitgehen.
Er führte ihn hinaus in den Wald, zeigte ihm ein Kraut, das da wuchs, und sprach: »Jetzt sollst du dein Patengeschenk empfangen. Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, so will ich dir jedesmal erscheinen. Steh’ ich zu Häupten des Kranken, so kannst du keck sprechen, du wolltest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von jenem Kraut ein, so wird er genesen. Steh’ ich aber zu Füßen des Kranken, so ist er mein, und du mußt sagen, alle Hilfe sei umsonst. Aber hüte dich, daß du das Kraut nicht gegen meinen Willen gebrauchst, es könnte dir schlimm ergehen.«
Es dauerte
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