Onkel Robinson
nicht einen Augenblick in den Sinn, daß der auf dem Sand Liegende ja auch tot sein konnte. Er stürzte nur auf ihn zu. Das zum Himmel emporgewandte Gesicht Harry Cliftons war bleich, die Augen geschlossen, der Mund halb geöffnet, die Zunge zwischen den Zähnen angeschwollen. Der Körper mit den ausgestreckten Armen lag völlig bewegungslos da. Die stark verschmutzten Kleider trugen Spuren von Gewaltanwendung. Neben dem Ingenieur sah Flip eine alte Pistole, ein offenstehendes Messer und ein Enterbeil liegen.
Flip beugte sich über den Körper des Ingenieurs. Er öffnete dem Unglücklichen die Kleider. Der Körper war warm, aber durch all die Entbehrungen und Leiden furchtbar abgemagert. Als Flip Cliftons Kopf hochhob, gewahrte er am Schädelknochen eine klaffende, verkrustete Wunde.
Flip hielt sein Ohr an die Brust des Verletzten und horchte.
»Er atmet! Er atmet noch!« rief er dann. »Ich werde ihn retten. Wasser! Wasser!« In einigen Schritten Entfernung floß ein Rinnsal vom Sumpf her über den Sand zum Meer. Flip eilte hin, tauchte sein Taschentuch in das kühle Wasser und kehrte zu dem Verletzten zurück. Er benetzte ihm zuerst den Kopf und löste behutsam die blutverklebten Haare. Dann befeuchtete er Augen, Stirn und Lippen des Ingenieurs.
Harry Clifton regte sich ein wenig. Die Zunge zwischen den aufgeschwollenen Lippen bewegte sich leicht, und Flip glaubte das Wort »Hunger! Hunger!« zu vernehmen.
»Natürlich!« rief Flip. »Der arme Mann! Er stirbt vor Hunger! Wer weiß, wie lange er schon ohne Nahrung ist!«
Doch wie sollte er den Unglücklichen wieder zu Kräften bringen? Wie dieses Leben festhalten, das zu entschwinden bereit war?
»Ah!« rief Flip. »Der Zwieback und das Fleisch, die Mrs. Clifton … In göttlicher Eingebung hat diese Frau gehandelt!« Flip eilte zu dem Rinnsal und schöpfte mit einer Muschel ein wenig Wasser. Darin löste er etwas Zwieback auf, so daß eine Art Brotsuppe entstand, die er dem Verletzten löffelweise eingab.
Das Schlucken des eingeweichten Zwiebacks bereitete Harry Clifton große Mühe. Seine Kehle hatte sich verengt und war kaum noch zur Nahrungsaufnahme fähig. Dennoch gelang es Flip, ihm ein wenig Brotsuppe einzuflößen, und allmählich schien etwas Leben in den Körper des Ingenieurs zurückzukehren.
Die ganze Zeit über sprach Flip zu ihm wie eine Mutter zu ihrem kranken Kind. Was ihm an aufmunternden Worte zu Gebote stand, ließ er dem Ingenieur zuteil werden. Nach etwa einer halben Stunde öffnete Harry Clifton die Augen. Sein fast erloschener Blick richtete sich auf Flip. Clifton erkannte den Seemann, das war deutlich zu sehen, denn seine Lippen formten sich zu einem Lächeln.
»Ja, Monsieur Clifton«, sagte Flip, »ich bin es tatsächlich, der Matrose von der
Vankouver …
Sie haben mich schon richtig erkannt … Ja, ja, ich weiß genau, was Sie mich fragen wollen! Aber sprechen Sie bitte nicht! Das ist jetzt nicht notwendig! Hören Sie mir nur zu. Ihre Frau und ihre Kinder … Es geht ihnen allen gut. Sie sind glücklich! Sehr glücklich! Und wenn sie Sie erst sehen, das gibt eine Freude! Das wird himmlisch!« Als der Verletzte die Finger bewegte, begriff Flip ihn sofort. Er legte seine Hand in die des Ingenieurs, und dieser drückte sie leicht.
»Schon verstanden, Monsieur, schon verstanden«, sagte der Seemann, »aber das ist nicht nötig. Gar nicht der Rede wert. Ich habe vielmehr Ihnen zu danken, daß Sie zu uns gekommen sind. Das ist sehr nett von Ihnen!«
Dabei lachte der gute Flip und tätschelte dem Verletzten die Hand, während Fido seinem Herrchen liebevoll über die Wangen leckte.
Da rief Flip plötzlich aus: »Jetzt fällt es mir erst ein! Du mußt ja vor Hunger vergehen, Fido!«
Der treue Hund bekam von Flip ein paar Stücke Fleisch und Zwieback. Er stürzte sich darauf und schlang alles gierig hinunter. Da gab Flip ihm noch eine Portion von seinem kostbaren Vorrat. Er war jetzt in Spendierlaune. Überhaupt war er ganz ernsthaft der Meinung, nachdem nun der Vater wiedergefunden sei, brauche man sich um das Schicksal der kleinen Kolonie keine Sorgen mehr zu machen.
Unterdessen kam Harry Clifton durch den eingeweichten Zwieback wieder einigermaßen zu Kräften. Während er aß, untersuchte Flip seine Wunde. Der Schädelknochen war nur gequetscht. Flip, der sich mit dergleichen auskannte – wohl an die zwanzigmal hatte er Gelegenheit gehabt, sich selbst zu behandeln –, hielt den Zustand des Verletzten nicht für
Weitere Kostenlose Bücher