Onkel Toms Hütte
Uhr, wird dich Phineas Fletcher weiter zur nächsten Siedlung bringen – dich und den übrigen Transport. Die Verfolger sind euch hart auf den Fersen; wir dürfen keine Zeit verlieren!«
»Wenn es an dem ist, warum warten wir dann bis zum Abend?« fragte Georg.
»Bei Tageslicht seid ihr hier sicher, denn in der Siedlung ist jedermann euer Freund, und alle passen auf. Zu reisen ist es in der Nacht sicherer.«
14. Kapitel
Evangeline
Die schrägen Strahlen der sinkenden Sonne zittern auf der meerweiten Ausdehnung des Mississippi. Die schwankenden Rohre und hohen dunklen Zypressen, mit Kränzen von dunklem trauerndem Moos behangen, glühen in dem goldenen Licht, während das schwerbeladene Dampfschiff vorüberstampft.
Mit Baumwollballen vieler Plantagen auf allen Decks und an allen Seiten so schwer beladen, daß es aus der Ferne wie ein vierdeckiger, massiver, grauer Block erscheint, verfolgt es schwerfällig seinen Kurs zum nahen Weltmarkt. Wir müssen uns erst geraume Zeit auf den überfüllten Decks umsehen, ehe wir unseren bescheidenen Freund Tom wiederfinden. Hoch auf dem Oberdeck, in einer kleinen Lücke zwischen den unvermeidlichen Baumwollballen, haben wir ihn glücklich gefunden.
Dank des Vertrauens, das Mister Shelbys Zeugnis hervorrief, und dank seines wirklich auffallenden harmlosen und ruhigen Charakters hatte sich Tom inzwischen ganz unmerklich das Vertrauen selbst eines solchen Mannes wie Haley erworben.
Anfangs hatte ihn dieser tagsüber noch argwöhnisch beobachtet und ihn des Nachts niemals ungefesselt schlafen lassen; aber die klaglose Geduld und die offensichtliche Ergebenheit in Toms Betragen hatten ihn allmählich bewogen, diese Vorsichtsmaßnahme fallenzulassen, und seit einiger Zeit genoß Tom jetzt eine gewisse Freiheit auf Ehrenwort, da ihm erlaubt war, sich nach Belieben frei auf dem Schiff zu bewegen.
Immer rührig und gefällig und nur allzu bereit, in jeder Notlage den Arbeitern unter Deck behilflich zu sein, hatte er sich das Vertrauen der Mannschaft erworben und viele Stunden damit zugebracht, ihnen zur Hand zu gehen, als ob er auf einer Farm in Kentucky arbeitete.
Wenn es nichts für ihn zu tun gab, pflegte er sich zwischen den Baumwollballen auf dem Oberdeck niederzulassen und sich dort in die Bibel zu versenken, wo wir ihn auch jetzt antreffen.
Auf einer Strecke von über 100 Meilen hinter New Orleans ist der Strom höher als das umliegende Land und rollt seine riesigen Fluten zwischen festen Dämmen von mehr als zwanzig Fuß Höhe dahin. Der Reisende kann daher vom Deck des Dampfers wie von der Spitze eines schwimmenden Schlosses auch das ganze Land meilenweit überblicken, so daß Tom sich angesichts der vorüberziehenden Plantagen sein zukünftiges Leben ausmalen konnte.
Er sah in der Ferne die Sklaven bei der Arbeit; er sah von weitem ihre Hüttendörfer von mancher Plantage herüberleuchten, in gutem Abstand von den stattlichen Landsitzen und Anlagen ihrer Herrn; und wie das bewegliche Bild langsam vorüberglitt, kehrte sein armes, törichtes Herz zurück zu der Farm in Kentucky mit seinen alten, schattigen Buchen – zurück zu dem Haus seines Herrn mit den weiten, kühlen Räumen, und nicht weit davon zu seiner eigenen kleinen Hütte, überzogen mit blühenden Blumen und Ranken. Dort grüßten ihn die vertrauten Gesichter seiner Gefährten, die mit ihm aufgewachsen waren; dort sah er sein fleißiges Weib, wie sie ihm geschäftig das Abendbrot richtete; dort hörte er das fröhliche Lachen seiner Kinder beim Spiel und das Krähen seiner Jüngsten auf seinem Knie; dann aber, mit einem Schlag verschwand alles wieder, und Tom sah weiter nichts als die Rohre und Zypressen der vorüberziehenden Plantagen und hörte nichts als das Stampfen und Stöhnen der Schiffsmaschinen, die ihm nur allzusehr bestätigten, daß jene glückliche Zeit seines Lebens auf immer vorüber war.
Ist es also zu verwundern, daß einige Tränen auf die Seiten seiner Bibel fallen, als er sie auf die Baumwollballen legt und mit geduldigem Finger von einem Wort zum anderen seinen Verheißungen nachspürt? Da er das Lesen erst später im Leben erlernt hatte, war Tom ein sehr langsamer Leser und mußte sich fleißig von Vers zu Vers durcharbeiten. Es war für ihn ein Glücksumstand, daß das Buch, in das er versenkt war, durch langsames Lesen keinen Schaden litt – sondern im Gegenteil, daß seine Worte durch sorgsames Abwägen wie Goldbarren dem Gemüt erst ihren köstlichen Wert verraten. Folgen wir
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