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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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Land: Fast alle im Sozialismus erlernten Berufe taugten plötzlich nichts mehr. Alles, was früher schwer vernünftig schien, wurde auf die neue kapitalistische Waage gelegt und für viel zu leicht befunden.
    Im Sozialismus ging man auch nicht des Geldes wegen zur Arbeit. Es wurde jedem Bürger nur deswegen eine regelmäßige berufliche Tätigkeit abverlangt, damit er nicht zu viel Freizeit hatte, also um ihn zu disziplinieren und damit die Regierung immer wusste, wo ihre Bürger steckten. Im Kapitalismus ist der Sinn jedes Berufs, Geld zu verdienen. Die sozialistischen Buchhalter, Juristen, Offiziere, Pädagogen, Transportspezialisten und eine ganze Armee von Experten für automatische Produktionslinien von irgendetwas, sie alle saßen in der Klemme und mussten schnell ihre gerade erlernten Berufe vergessen, um etwas wirklich Solides anzufangen. Zum Studieren hatten sie keine Zeit und kein Geld mehr. Also pfiff die Schokoladenfabrikträumerin auf ihren Buchhalterjob und machte ein Restaurant für Kinder auf. Der Transport-Ingenieur, der davon geträumt hatte, im Ausland zu spionieren, eröffnete ein Reisebüro, der Jurist wurde Kleiderverkäufer, der Buchhalter Musikmanager, der Offizier »Security« in einer Bank, und der Kosmonaut arbeitete als Makler für eine Immobilienfirma. Es gab keine Logik bei diesen Entwicklungen. Im Berufsleben meiner Generation kam alles durcheinander. Die einen haben ihre Leidenschaft wiedergewonnen, die anderen sind unter Druck geraten. Immerhin lebten sie jetzt in einer Leistungsgesellschaft, die von jedem Bürger vollen Einsatz in angepasster Sklavenarbeit erwartete. Wahrscheinlich hassten jetzt viele ihren Beruf. Ich glaube, dass die meisten Manager ihren Hass jeden Tag eine halbe Stunde lang auf der Toilette herausschreien müssen, um weiter leistungsfähig zu bleiben. Nur in seltenen Momenten des Lebens gelingt es uns, aus der Leistungsnot mit Leidenschaft herauszukommen.
    »Lass uns einen Tee trinken, ich brauche eine Pause, muss etwas Luft holen«, sagte mein Onkel. »Zum Beispiel in diesem netten Laden dort. Wir werden nichts groß bestellen, nur fünf Minuten sitzen, einen Tee geben sie uns bestimmt umsonst.«
    Er zeigte auf ein Café, das aus einem Jugendhotel auf der Invalidenstraße herauswuchs. Man sah daran, dass Berlin sich zunehmend in eine Touristenmetropole verwandelte. Immer mehr Kneipen hatten nachts auf. Wir gingen rein, und siehe da: Alte Bekannte – die Reiseunternehmer aus dem Russenzug – saßen mit Biergläsern am Tresen und tauschten weiter ihre reiseunternehmerischen Erfahrungen aus.
    »Das ist alles schön und gut«, sagte ein asiatisch aussehender Kollege, »aber die Zukunft der Branche liegt bei uns in Kirgisien. Denn wir haben Pegasus-Safari, und nichts ist spannender als eine richtige Pegasus-Safari.«
    »Was ist, bitte schön, eine Pegasus-Safari?«, fragten ihn die anderen.
    »Das sind diese großen Murmeltiere, die wie kleine Pferdchen aussehen«, erklärte der Kirgise.
    »Ich habe schon mal davon gehört«, bestätigte ein Kollege nachdenklich. »Aber auch, dass es schon mehrmals vorgekommen ist, dass ganze Reisegruppen ihr Geld zurückverlangten. Sie irrten verloren in der Steppe herum, zwei, manchmal drei Wochen lang, entdeckten aber keinen einzigen Pegasus.«
    »Geben Sie zu, es gibt in Wirklichkeit gar keine Pegasen, Sie haben sich Ihre Jagd ausgedacht, um Touristen anzulocken«, lachten die Kollegen den kirgisischen Unternehmer aus. »Diese Pegasen existieren bloß als volkstümlicher Ausdruck für ein Delirium. Wenn ein Kirgise so betrunken ist, dass er nicht mehr gerade stehen kann, dann sagt man dort: Er geht Pegasen jagen.«
    »Nein, es gibt sie«, insistierte der Kirgise laut und beleidigt. »Sie sind bloß unheimlich schlau, sie können ihre Körpertemperatur senken und riechen einen Menschen aus großer Entfernung. Außerdem sind sie schnell und intelligent, nicht umsonst hat man sie nach Pegasus, dem Zauberpferd der Poeten, benannt.«
    Der Älteste am Tisch, wahrscheinlich der Chef der Gruppe, blickte nachdenklich in die Runde und fragte: »Haben Sie schon mal einen Pegasus ausgestopft?«
    »Nein«, lächelte der Kirgise, »noch nie.«
    »Na, sehen Sie?«, meinte der Chef triumphierend. »Für den Anfang schnüre ich als Angebot für den Westen ein Standardpaket – aus einer Ziege und einem Bären.«

Die wichtigsten Gedanken kommen einem in der Kneipe
    Eine blondierte, etwas verschlafene Kellnerin begrüßte uns und half mir, den

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