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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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vor allem kleine Kinder und alleinstehende Rentner. Kusja baut ständig Mist. Er neigt dazu, die Regeln des Dorflebens zu brechen, sich in fremden Gärten auszutoben oder die Wäsche eines Nachbarn von der Leine zu zerren. Er liebt es, die Aufmerksamkeit seiner Umgebung auf sich zu ziehen. Genau wie Paris Hilton hat auch Kusja seine Kritiker und Befürworter. Die einen bemitleiden ihn, die anderen schimpfen über ihn, aber alle warten ungeduldig, was er als Nächstes anstellt.
    So wie Kusja haben auch wir nichts Vernünftiges jenseits der Fabeln gelernt und sabotierten das Wissen unserer Väter und Großväter. Dabei waren viele von ihnen voll von Weisheiten aller Art. Diese Menschen hatten vom Schicksal die härteste Zeit zugewiesen bekommen, manche hatten Revolution, Bürgerkrieg, Weltkrieg, mehrere kleine Zwischenkriege und die Industrialisierung erlebt, die mehr Menschenleben forderte als ein Krieg und im Großen und Ganzen unter dem Motto »Lagerarbeiter! Lass in den Flammen deines Arbeitseinsatzes deine Strafe schmelzen!« stattfand. Diese Menschen waren schon deswegen Helden, weil sie das alles überlebt hatten. Und natürlich hätten sie uns viel beibringen können, wenn wir nicht so faul und blöd gewesen wären.
    Auf dem Hof vor dem Haus meines Onkels saßen bei gutem Wetter drei solche Weise an einem großen Holztisch. Einer davon war mein Onkel selbst, ein schweigsamer, nachdenklicher Mensch. Seine letzte Arbeitsstelle war die eines Buchhalters bei einem Hafenbetrieb der Schiffsflotte, wo er für die Finanzströme innerhalb der Flotte sorgte. Mein Onkel konnte damals mit ernster Miene tolle Tricks zeigen. Zum Beispiel krempelte er einen Ärmel hoch, nahm eine Fünfkopeken-Münze, presste sie auf seinen Unterarm und rieb sie in die Haut ein. Die Münze verschwand auf mysteriöse Weise vor aller Augen, sie löste sich unter den Fingern meines Onkels einfach auf. Der demonstrierte stolz seine leeren Hände und holte gleich darauf dieselbe Münze aus seiner eigenen Hosentasche, oder er fand sie bei einem Kind hinter dem Ohr, jedenfalls immer an einem Ort, wo es bis dahin nie irgendwelche Münzen gegeben hatte. Er war ein Magier, ein Zauberer. Dementsprechend magisch stellte ich mir seine Buchhaltertätigkeit vor. In meiner Phantasie saß der Onkel auf der Führungsetage im Hafen und rieb sich die Gewinne der Flotte Münze für Münze in die Unterarme ein. Es war eine harte, aber notwendige Arbeit.
    Sein Kumpel Eduard, der Zweite am Holztisch, konnte mit den Ohren wackeln. Er hatte laut Gerücht bei der ersten Judo-Weltmeisterschaft 1956 Bronze geholt und war überhaupt sehr sportlich. Onkel Eduard hatte besondere Ohren. Sie waren krumm gewickelt und ungeheuer beweglich. Ich glaube, in Gestalt von Onkel Eduard hatte die Natur etwas ganz Neues, Revolutionäres versucht, das Experiment dann aber aus unerfindlichen Gründen frühzeitig abgebrochen. Für uns waren die sportlichen Erfolge von Onkel Eduard kein Gerücht. Niemand konnte gegen einen mit den Ohren wackelnden Kämpfer bestehen, jeder würde sofort vor Lachen umfallen, dachten wir.
    Der Dritte in der Runde auf dem Hof war der verdiente alleinstehende Rentner Kowalew aus der Wohnung Nummer 77, ein ehemaliger Raketenentwickler. Er musste früher zu jedem Raketenstart von Odessa nach Kasachstan fahren, zum Kosmodrom Baikonur. Kowalew konnte bei jedem Wetter, in Regen und Wind, Streichhölzer anzünden. Er verbarg das Streichholz auf eine besondere Weise in seinen Händen, sodass es sogar im Regen bis zu Ende brannte. Ich hielt ihn daher für den Raketenanzünder. In meiner Vorstellung war der Ingenieur Kowalew der wichtigste Mann auf Baikonur. Er war derjenige, der mit einem brennenden Streichholz zur Rakete kroch und sie durch Anzünden zum Starten brachte. Gott weiß, wie viel wir von diesen Menschen hätten lernen können, deren aktive Arbeitsphase längst vorbei war. Nun saßen sie auf dem Hof in der Sonne, tranken Bier aus Dreilitergläsern, spielten Domino und versuchten ab und zu, der heranwachsenden Generation ein paar Weisheiten unterzujubeln. Aber wir waren, wie gesagt, zu faul und zu blöd und haben nichts von ihnen angenommen. Die Weisheit der Väter und Großväter ist an mir vorbeigegangen. Ich kann keine Münzen in meinen Unterarm einreiben, ich schaffe es wahrscheinlich auch nicht, mit einem Streichholz eine Rakete zu zünden. Ich kann nicht einmal mit den Ohren wackeln! Nur mit den Augen zwinkern.
    Ich nahm einen Rotwein für mich, einen

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