Onkel Wanja kommt
Schnaps und einen Tee für meinen Onkel.
»Kannst du eigentlich noch wie damals das Geld in die Arme einreiben?«, fragte ich ihn.
Er lächelte.
Unsere Werte
»Lass uns zahlen«, sagte ich zu meinem Onkel. »Dann gehen wir langsam weiter. Oder vielleicht könnten Sie uns ein Taxi rufen?«, fragte ich die sympathische Kellnerin, als sie uns den Kassenbon brachte.
Ich hatte nichts gegen einen Spaziergang, es war auch gar nicht so weit vom Bahnhof bis nach Hause, doch mein Onkel sah müde aus, und die Vorstellung, seinen Koffer mit Steinen die ganze Invalidenstraße entlang über die Bürgersteige zu rollen, machte mich etwas unsicher.
»Können Sie uns ein Taxi besorgen?«, wiederholte ich meine Frage.
»Nein, kann ick nich«, sagte die Kellnerin auf freundlich berlinerische Art. »Ick kenne die Nummer nicht, ick selbst fahre nämlich keen Taxi. Aber hier gleich um die Ecke am Döner-Paradies ist ein Taxistand, da stehen immer welche, das weiß ick genau.«
»Gut, wenn Sie sicher sind, gehen wir zum Döner-Paradies«, nickte ich.
»Sicher bin ick nie, aber da stehen eigentlich immer Taxen«, meinte die Frau. »Dat würde mich wundern, wenn da keine Taxen stehen, kann aber auch passieren. Man muss heutzutage auf alles gefasst sein, nichts ist sicher, aber die Hoffnung stirbt zuletzt, nicht?«, meinte sie philosophisch. »Wenn um die Ecke keine Taxen stehen, könnt ihr jederzeit zurückkommen, wir haben bis um fünf Uhr früh auf«, lächelte sie uns an.
Ich dankte für die Einladung und sammelte das nötige Kleingeld aus meinen Taschen, um die Rechnung zu begleichen. Der Onkel betrachtete die Münzen auf dem Tisch mit numismatischem Interesse. In Russland werden zwar offiziell noch Münzen hergestellt, sie gehören praktisch aber längst der Vergangenheit an. Durch die ständige Geldentwertung sind sie sinnlos geworden. Rubel und Kopeken werden nicht einmal mehr Bettlern zugemutet. Früher in der Sowjetunion konnte man dagegen mit Hartgeld große Einkäufe machen. Ein Brötchen, das heute dreißig Rubel kostet, kostete in der Sowjetunion drei Kopeken, eine Schachtel Streichhölzer war nur eine Kopeke wert. Als Kinder hatten wir nie Papiergeld in der Tasche, unser Alltag war ein Kopeken-Leben. Alles, was uns interessierte – Milchcocktails, Zigaretten, Eis, Kino – kostete ein paar Kopeken.
Wahrscheinlich erinnerten die deutschen Münzen meinen Onkel an frühere Zeiten. Er drehte sie, schaute den komischen dicken Adler an, wog sie vorsichtig auf der Hand. Tatsächlich hatten die europäischen Silber- und Kupfermünzen eine gewisse Ähnlichkeit mit unseren sowjetischen Kopeken, die eigentlich nur als Übergangswährung zu einer geldlosen kommunistischen Gesellschaft dienen sollten, einer Zukunft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten geben und nach seinem Bedürfnissen nehmen durfte, ohne dafür zu zahlen. Daraus ist nichts geworden, der Traum ist geplatzt. Seitdem vertrauen die Russen ihrer Währung nicht mehr.
Das heutige russische Papiergeld wird, so denke ich, von den meisten als Falschgeld betrachtet, extra gedruckt, um die Menschen zu verwirren und jeden Ausdruck der Menschlichkeit damit zu ersetzen: Leidenschaft, Freundschaft, Solidarität, Zusammenhalt. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, wird für jede üble Tat als Ausrede genommen und akzeptiert. Eigentlich hatten die Russen auch das sozialistische Papiergeld nicht für voll genommen. Die sowjetischen Scheine mit Lenins Schädel darauf waren nichts als faule Aktien. Die Idee, alle Menschen mit einer gerechteren Gesellschaft zu beglücken, die einst in diesem Schädel geboren wurde, ist irgendwo zwischen den Vernichtungslagern des Stalinismus und der verfilzten sowjetischen Bürokratie der späten sozialistischen Zeit verloren gegangen. Die Idee war tot, nur die Scheine blieben noch eine Weile. Das postsozialistische Geld ohne Lenin darauf verlor so schnell an Wert, dass jeder Geschäftsmann zwangsläufig ein guter Jogger sein musste. Die Summe seiner Gewinne war nämlich nicht zuletzt davon abhängig, wie schnell er seine Rubel zur Bank bringen konnte, um sie in härtere Währung umzutauschen.
Mein Freund Alexander, der damals als einer der Ersten anfing, dem Geldgott der neuen Zeit zu dienen, schleppte ständig Sporttaschen, Koffer und Rucksäcke voller Geldscheine zur Bank. Das Geld zu verdienen fiel ihm leichter, als es zu behalten. Noch während des Geldschleppens schrumpfte sein Gewinn bereits um ein Drittel, allein der Inflation wegen.
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