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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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auch beinahe dieselbe Wirkung. Auf jeden Fall verklebte dieser Kaugummi den Mund schon nach zwei Minuten und machte jegliche Kommunikation mit der Welt unmöglich.
    Wenn uns die sozialistische Diktatur mit ihrem Kau gummi mundtot machen, zum Schweigen bringen wollte, dann ist ihr das gelungen. Manchmal gab es als Alternative zum sowjetischen Kauvergnügen chinesischen Kaugummi auf dem Markt. Die chinesischen Kaugummis waren noch langlebiger als unsere, außerdem steckte in jeder Packung ein Aufkleber mit asiatischen Bikinischönheiten. Auf diese Aufkleber waren viele scharf, sie verschönten uns das öde Leben. Kinder wie Erwachsene freuten sich über diese Frauen, die sie sammelten und untereinander tauschten.
    Einmal besuchten wir mit Verwandten meine verstorbene Oma in Odessa auf dem Friedhof. Der Onkel war ebenfalls dabei. Meine Oma war gerade vor einem Jahr gestorben, und die Familie fuhr beinahe vollzählig zum Friedhof, um sich gemeinsam an sie zu erinnern. Dieser Friedhof lag außerhalb der Stadt, sah unglaublich langweilig aus und ist mir als finsterer Ort in Erinnerung geblieben. Man sah keine Bäume, keine Geschäfte oder Menschen, nur Grabsteine, so weit das Auge reichte. Wir versammelten uns vor Omas Grabstein, die Erwachsenen stellten Blumen in ein Glas, schaufelten den Schnee zur Seite, abschließend tranken sie einen Schnaps zum Gedenken an die Oma.
    Meine damals zehnjährige Cousine Jana und ich langweilten uns auf dem Friedhof zu Tode. Wir konnten es nicht erwarten, diesen Ort endlich wieder zu verlassen. Als unsere Eltern bereit waren zu gehen, holte Jana plötzlich eine chinesische Kaugummipackung aus der Tasche, entnahm ihr einen der Aufkleber und drückte ihn zum Abschied auf den Grabstein. »Langweile dich nicht, Oma«, sagte sie. Die Erwachsenen blieben wie versteinert stehen, so unerwartet frech kam das. Keiner hat so etwas von Jana erwartet. Nur mein Onkel lachte auf. »Ich sehe schon die Pubertät kommen«, sagte er zu Janas Mutter, Tante Wanda. Danach gaben sich die Erwachsenen große Mühe, mit einem Messer und einem Schlüsselbund die halbnackte Asiatin wieder vom Grabstein abzukratzen. Die chinesische Kleber-Qualität war schon damals sehr hoch, mit keiner russischen zu vergleichen. Daher blieben trotz aller Anstrengungen Teile der Asiatin – ihr Knie, ein Stück vom Bikini und ihr Lächeln – am Grabstein kleben. Meine Cousine Jana musste dafür büßen: Sie musste am gleichen Abend zu Hause im Wohnzimmer drei Stunden lang mit dem Gesicht zur Wand in einer Ecke stehen und durfte die Sendung »Gute Nacht, Kleine« um 20.15 Uhr nicht sehen, die von einem Schweinchen und einem Hündchen moderiert wurde. Ich habe ihr später alles nacherzählt.
    Solche antipädagogischen Erziehungsmethoden waren in der Sowjetunion durchaus üblich. Die Erwachsenen gaben sich nicht die Mühe, als Vorbild für das eigene Kind aufzutreten. Sie konnten selbst ein völlig unmoralisches Leben führen, ihre Kinder aber wegen jeder Kleinigkeit zur Verantwortung ziehen und bestrafen. Während Jana weinend in der Ecke stand, saß die ganze Verwandtschaft mit Schnaps, Zigaretten, Gitarre und Akkordeon in der Küche und gedachte im Vollrausch der verstorbenen Oma. Während sie in der Küche lärmten, klaute ich für Jana Vitamin-C-Kügelchen aus dem Apothekenkasten ihrer Mama. Von ihr bekam Jana nur ein Kügelchen pro Tag, von mir durfte sie gleich die ganze Packung haben als Ersatz für den beschlagnahmten Kaugummi.
    Wenn ich heute zurückblicke, stelle ich fest, ja, wir waren schlecht erzogen. Aber unsere Eltern doch auch! Die meisten Benimmregeln, die Grundsteine der Erziehung, wurden vor allem im Literaturunterricht auf uns abgeworfen – in Form von Fabeln. In meiner sozialistischen Schule mussten wir mindestens drei dieser Fabeln auswendig lernen. In jeder ging es um unglückliche, zurückgebliebene Tiere, Vögel und Insekten, die einander hassten. In Der Schwan, der Krebs und der Hecht zum Beispiel wurden obengenannte Lebewe sen vor einen Karren gespannt, den sie nach dem bösen Willen des schadenfrohen Fabelschreibers zusammen ziehen mussten. Sie konnten sich aber wegen ihrer unterschiedlichen Fortbewegungsarten nicht koordinieren. Der Schwan wollte fliegen, der Hecht schwimmen, der Krebs rückwärts kriechen. Die Moral dieser Fabel war, glaube ich, klar: Nur zusammen können wir die Karre aus dem Dreck ziehen, nicht als einzelne freie Bürger, sondern als gemeinsames großes sowjetisches Volk. Man sollte

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