Onkel Wanja kommt
versorgte.
In der Sowjetunion wurden mit Lebensmitteln wahre Wunder vollbracht, wobei diese Wunder allerdings einen antireligiösen Charakter hatten: Unsere Lebensmittel mehrten sich nicht, im Gegenteil. Wie die leeren Versprechungen der Ideologie lösten sich beispielsweise sozialistische Nudeln ganz im kochenden Wasser auf, weil das richtige Verhältnis zwischen der Nudelidee und dem Nudelgehalt, zwischen der Stärke und dem Mehl nicht aufrechterhalten werden konnte. Dazu muss gesagt werden, dass die Nudeln sich vor allem in der Provinz auflösten, unsere Moskauer Nudeln hielten durch. Das richtige Verhältnis zwischen Stärke und Mehl sollte, wenn ich mich nicht irre, 50/50 sein. Wenn sich aber durch engagiertes Mitwirken der Mitarbeiter einer Nudelfabrik der Anteil des Mehls reduzierte, konnte die Hausfrau gleich drei Packungen in den Topf schmeißen, am Ende kam dabei nur Tapetenkleister heraus.
Mir ist einmal Ähnliches mit sogenannten Moskauer Würsten passiert, die ich zusammen mit meinem Freund M. – wir waren damals beide obdachlos und arbeitslos – in der Küche seiner Freundin kochte. M. hatte ein Kilo dieser Moskauer Würste gekauft. Wir lös ten sie erst aus der Pelle und warfen sie dann in ko chendes Wasser. Äußerlich sahen die Würste sehr gut aus, knallrot und durchaus appetitanregend. Wie drei hungrige Hunde standen M., seine Freundin und ich am Gasherd und schauten ungeduldig auf den Deckel. Nach drei Minuten, der empfohlenen Minimalzeit für das Würstekochen, nahmen wir den Deckel ab: Der Topf war mit einer roten Brühe gefüllt, die Würste waren in die innere Emigration gegangen. Der original sowjetische Schmelzkäse mit dem knalligen Namen »Mit Zwiebeln« schmolz mir einmal einfach durch das Brot weg. Nur das, was von der Zwiebel übrig blieb, konnte man noch an der Oberfläche erkennen.
Das Hauptwunder der sowjetischen Gastronomie stellte jedoch die Margarine dar. Man kaufte sie nicht direkt zum Essen, sondern verwendete sie zum Kartoffelnbraten, um dabei die teure Butter zu sparen. In dieser Funktion benahm sich die Margarine jedoch äußerst verräterisch. In die heiße Pfanne geworfen imitierte sie zunächst völlig übertrieben die Butter, brutzelte und zischte, wuchs zu einer großen Blase heran, die schließlich platzte und eine so sauber glänzende Pfanne zurückließ, als wäre nie Margarine drin gewesen. Heute denke ich, auch alle postsozialistischen Lebensentwürfe waren derart labil und von äußeren Zwängen abhängig. Sie konnten nur in einem künstlichen Raum ent- und bestehen, in einer Orangerie aus Glas, von Stacheldraht umzäunt. Sie waren zart und launisch, diese Existenzweisen.
So weit ich zurückblicken kann, war ich als junger Dissident ständig auf der Suche nach westlich aussehenden Lebensmitteln. In den Achtzigerjahren begann in der Sowjetunion die Produktion der Käsemarke Roquefort. Der Käse mit dem erotisch klingenden französischen Namen sollte die Lebensfreude in der Sowjetunion steigern. Er wurde allerdings nur in den beiden Hauptstädten des Landes, in Moskau und in St. Petersburg, verkauft. Die Bewohner der russischen Provinz waren nach Meinung der Machteliten noch nicht reif für diesen Käse. In unserem Moskauer Lebensmittelmarkt lag der Roquefort frei zugänglich auf einer extra Vitrine, von anderen sozialistischen Produkten getrennt. Nur wenige wagten, ihn zu probieren. Ich mochte Roquefort sehr. Jedes Mal, wenn ich ein Stück davon kaufen wollte, sprach die Verkäuferin vertraulich eine Warnung aus:
»Natürlich kann ich Ihnen eine Ecke von diesem Käse abschneiden«, sagte sie. »Aber ich muss Ihnen gleich sagen: Der ist ein bisschen verschimmelt.«
Diese idiotische, aber auch skurrile Bemerkung machte mir den verschimmelten Käse noch schmackhafter. Meine Vorliebe für Roquefort hat sich mit den Jahren nicht abgeschwächt, ebenso wenig meine Freude an skurrilen Bemerkungen, Fragen oder Aufforderungen. Niemand sonst, den ich kannte, konnte meine Vorliebe für Schimmelkäse teilen, ich war einer der sehr wenigen Schimmelkäsefreunde. Die Erwachsenen standen mehr auf flüssige Produkte, die Jugend begehrte Kaugummis. Viele aus meiner Generation wuchsen daher als äußerst schweigsame Menschen auf. Sie konnten nicht reden, sie kauten. Dabei war der sowjetische Kaugummi hart wie Stein. Ich kann mich noch an drei Sorten erinnern: Kirsche, Zitrone und Apfelsine. Sie sahen alle gleich aus, hatten die Farbe von Zement, schmeckten wie Zement und hatten
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