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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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Später kam noch die Korruption hinzu. Viele Geschäftsmänner aus seiner Umgebung schafften es nicht, ihre Gewinne vernünftig anzulegen oder auszugeben. Ehe sie sich umdrehten, verwandelten sich die Scheine in wertloses Papier. Es war ein frustrierendes Gefühl. So fühlte sich wahrscheinlich das arme Aschenputtel, das den Ball immer zum schönsten Zeitpunkt verlassen musste, damit der Prinz nicht mitbekam, wie ihre Kutsche sich in einen Kürbis verwandelte. Sie musste ihren Prinzen belügen und wegrennen, über drei Stufen springen und ihre von der Fee ausgeliehenen Schuhe verlieren.
    Der russische Kapitalismus basierte auf einem ähnlichen Zauber. Zwar waren alle zur Party eingeladen, doch niemand konnte sicher sein, wie lange er mitfeiern konnte. Aber anders als bei Aschenputtel verwandelte sich der Wohlstand samt aller Lebensentwürfe der Neureichen nicht pünktlich um Mitternacht – daran hätte man sich gewöhnen können –, sondern zu jeder beliebigen Stunde in Kürbisse. Ihre Geschäfte verwandelten sich in Kürbisse, ihre Immobilien, ihre Frauen, manchmal sie selbst. Das Land wirkte wie ausgestorben, überall lagen nur Kürbisse herum. Bis heute wird diese Kürbissuppe ausgelöffelt.
    Die Kellnerin hatte Recht, nichts ist mehr sicher auf dieser Welt, schon gar nicht eine Geldwährung. Und so schwimmen wir weiter im Fluss des Lebens, ohne festen Boden unter den Füßen, ohne Schnorchel und ohne Flossen, ohne eine Arche Noah, in die sich alle im Notfall retten könnten. Während die Deutschen sparen und etwas auf die hohe Kante legen, versuchen die Russen verzweifelt ihr Geld auf jede Art loszuwerden. Je reicher sie sind, umso verzweifelter. Russen investieren in gigantische Geburtstagsfeiern, kaufen überteuerte Yachten, Hubschrauber, U-Boote und englische Fußballvereine. Sie glauben daran, vielleicht doch noch die richtige Zutat für ein gutes Leben zu ergattern, und werden dabei bloß depressiv. Es kommt ihnen vor, als gäbe es in Wirklichkeit nichts Wertvolles mehr auf der Welt, wofür es sich lohnen würde, Geld auszugeben.
    Sogar Gold ist nicht mehr das, was es einmal war. Ein reicher Russe beschwerte sich neulich öffentlich in der Presse, sein Gold sei verrostet. Zuerst lachten alle bloß. Dieser ältere Neureiche war schon früher durch clowneskes Verhalten aufgefallen. Er fiel etwas aus dem Rahmen, hatte eine Menge Kinder mit Schönheitsköniginnen – aus Schönheitswettbewerben, die er selbst organisierte – und hatte als Hobby in einem Dorf eine Ziegenkäsekolchose gegründet. Er habe viel Geld auf den Aktienmärkten verloren, beschwerte er sich, verkaufte dann all seine Firmen und zog sich mit den Ziegen und seinen Kindern aufs Land zurück, wo er ein naturverbundenes Leben im Kreise seiner Lieben führen wollte. Die Schönheitsköniginnen zogen verständlicherweise nicht mit. Seine letzten Aktien hatte er in russische Goldmünzen umgerubelt, schöne große Münzen mit dem heiligen Georgij darauf, der mit seinem Speer eine Schlange aufspießt. Eine härtere Währung konnte man sich kaum vorstellen. Seine Erben hätten, wenn sie einmal groß wären, nie arbeiten gehen müssen. Doch statt sein Gold, wie ein solider Geschäftsmann es getan hätte, in einem Schließfach in der Bank zu lagern, vergrub der Verrückte es neben seinem Ziegenstall unter einer Eiche.
    Nach einem halben Jahr grub er das Gold wieder aus und staunte. Alle Münzen hatten einen brauen Belag und merkwürdige Kratzer bekommen. Der besorgte Ziegenzüchter sprach unverzüglich bei der Bank vor und beschwerte sich, sein Gold sei völlig verrostet. Die Bankexperten hielten ihn zuerst für nicht ganz dicht. Das Gold war absolut rein, die Münzen frisch gepresst. Und einen braunen Belag auf Gold gibt es nicht. Dieses Metall zählt ja zum Wertbeständigsten überhaupt, nicht zuletzt weil Gold mit keinem anderen Element, seien es Metalle oder Gase, eine chemische Verbindung eingeht. Gold reagiert mit nichts und kann demzufolge weder verrosten noch vergammeln oder verschimmeln.
    Der Ziegenmann brachte die Münzen zur Bank. Die Experten waren nicht blind, sie gaben zu, dass mit dem Gold etwas nicht in Ordnung war. Die Tatsache, dass das Gold des Ziegenmelkers so merkwürdig braun geworden war, konnte die Expertenkommission der russischen Zentralbank jedoch wissenschaftlich nicht begründen. Sie beschuldigten stattdessen den Kunden eines amoralischen Umgangs mit gesellschaftlichen Werten, weil er das edle Metall unvorschriftsmäßig

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