Onkel Wanja kommt
sich also nicht um sein eigenes kleines Glück kümmern, sondern um das Wohl des ganzen Karrens, des Staates genauer gesagt. Der Vogel, der Fisch und das Krustentier glaubten, dass jeder für sich seinen Weg gehen dürfe. Sie nahmen an, dass jedes Wesen allein und auf seine Weise auf dem krummen Pfad des Lebens wandeln könne, ohne Reisebus, ohne Reisegruppe, ohne irgendwelche Reiseführer, die ihnen die Sehenswürdigkeiten links und rechts erklärten und die Richtung wiesen. Aber dem Fabelschreiber gefielen sie als eingespannte Nutztiere besser.
In der zweiten Fabel ging es um eine dumme Krähe und einen schlauen Fuchs. Die Krähe saß auf einem Baum und hielt ein Stück Käse im Schnabel. Der schlaue Fuchs schleimte sich bei ihr mit der Bemerkung ein, die Krähe sei bestimmt eine tolle Sängerin. Die machte daraufhin den Schnabel auf, um zu singen, der Käse fiel herunter und wurde vom Fuchs gefressen. Die Moral dieser Fabel ist mir heute nicht mehr präsent, wahrscheinlich so etwas wie »Singe nie mit vollem Mund« oder Ähnliches. Sie ist mir schon damals unverständlich gewesen. Warum soll man nicht singen, wenn man Lust dazu hat? Ich denke, Krähen sind in Wirklichkeit viel klüger als Fabelschreiber. Außerdem glaube ich, Füchse essen gar keinen Käse.
Die dritte Fabel, die wir lernen mussten, war gleichzeitig die umstrittenste von allen: Sie hieß Die Libelle und die Ameise . Beide Insekten unterschieden sich rasant in ihrer Lebenshaltung. Die Ameise hatte den ganzen Sommer geschuftet wie ein Arbeitsheld in der Kolchose, während die Libelle ihr Leben als endlose Party in der Sonne genoss. »Na warte«, dachte die Ameise. »Die kalten Tage werden kommen, dann schauen wir, wer besser dran ist.« Und so geschah es dann auch. Der Winter kam, aber die Ameise hatte vorgesorgt und konnte satt und warm überwintern. Die Libelle bat bei ihr um Asyl, bekam eine Absage und starb im Schnee. Unsere Sympathien waren stets auf der Seite der Libelle. Die verräterische Ameise benahm sich wie ein perverser Geizkragen, deren ganzer Lebenssinn darin bestand, durch den Tod der Libelle ins Recht gesetzt zu werden.
Während meiner Schulzeit gab es mehrere selbstgedichtete Fortsetzungen dieser Fabel, bei denen die Libelle im Winter nicht starb. Stattdessen fuhr sie in einem gut beheizten Jeep an der noch immer ackernden Ameise vorbei und rief ihr zu, sie habe dieses fabelhafte Landleben satt und ziehe nun nach Moskau. »Wenn dir dort zufällig unser Autor begegnet«, rief ihr die Ameise hinterher, »bestell ihm bitte von mir, er ist ein Arschloch!«
Im Kapitalismus ist die libellische Lebenseinstellung, soweit ich das beurteilen kann, trotz des amerikanischen Traums ebenfalls populär. Sogar in Deutschland, dem Land des Fleißes, wollen mehrere großwüchsige Mädchen in der siebten Klasse des Gymnasiums meiner Tochter nicht, sagen wir mal, Tierärztin, sondern It-Girl werden, MMM s auf Deutsch – »Mädchen mit Medienpräsenz«. Sie besitzen noch keine eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet, haben aber schon kein Vertrauen mehr in die Kräfte der Natur und wollen sich deswegen bereits jetzt die Brüste vergrößern lassen, für alle Fälle, statt zu warten, wie weit sie sich von alleine entwickeln. Sicher ist sicher. Danach wollen sie ein wenig als Model arbeiten und dann eine Karriere als multimediale Erscheinung starten.
Ihr größtes Vorbild ist Paris Hilton, diese Libelle unseres Sommers, der Begleitservice für Millionen. Streng genommen ist sie keine Libelle, der es nur um den Spaß geht. Sie ist eine Fabelfigur der Neuzeit. Paris Hilton hat eine wichtige gesellschaftliche Funktion, sie produziert Nachrichten und dient vielen Menschen als Gesprächsstoff. Sie ist der »Streit am Wochenende«, wie man solche Medienfiguren im kaukasischen Dorf meiner Schwiegermutter nennt.
In der pragmatisch angelegten Nutztierwelt dieses Dorfes gibt es ebenfalls eine Paris Hilton. In dieser Funktion tritt hier der Ziegenbock Kusja auf, der eine große Präsenz besitzt und die volle Aufmerksamkeit der Dorfbevölkerung genießt, ohne etwas Gescheites zu produzieren. Anders als die anderen Nutztiere im Dorf bringt Kusja der dortigen Landwirtschaft keinen direkten Gewinn – er legt keine Eier, gibt keine Milch und liefert kein Fell. Aber er ist im dörflichen Leben so überpräsent wie Stefan Raab im deutschen Fernsehen. Überhaupt ist Kusja das am häufigsten anzutreffende Tier in der Gegend und schart laufend neue Zuschauer um sich,
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