Onkel Wolfram - Erinnerungen
sezieren galt, wie ich Regenwürmer und Frösche sezierte - um zu lernen, wie die organische Maschine aufgebaut war. Am Kopf des Tisches befand sich ein anatomisches Handbuch, Cunninghams Manual . Es war das Exemplar, das die Medizinstudenten beim Sezieren benutzten; seine Seiten waren gelb und fleckig von Menschenfett.
Eine Woche zuvor hatte mir meine Mutter einen Cunningham gekauft, daher verfügte ich über gewisse Vorkenntnisse, doch die bereiteten mich nicht im Geringsten auf die konkrete emotionale Erfahrung vor, auf die Sektion meines ersten Leichnams. Mit einem energischen Schnitt den Oberschenkel hinab zerteilte Professor G. die Haut und das Fett und legte die Muskelhaut darunter frei. Sie gab mir verschiedene Tipps und drückte mir das Skalpell in die Hand - in einer halben Stunde sei sie zurück, sagte sie, dann werde sie schauen, wie weit ich gekommen sei.
Einen Monat brauchte ich, um das Bein zu sezieren. Am schwierigsten waren der Fuß mit seinen kleinen Muskeln und zähen Sehnen und das Kniegelenk in seiner ganzen Komplexität. Gelegentlich konnte ich würdigen, wie wunderbar alles zusammengefügt war, konnte ich das intellektuelle und ästhetische Vergnügen nachempfinden, das die Chirurgie und Anatomie meiner Mutter bereiteten. Sie hatte bei dem namhaften vergleichenden Anatom Frederic Wood-Jones studiert und schätzte seine Bücher - Arboreal Man, The Hand und The Foot - und hielt die handsignierten Exemplare, die sie besaß, hoch in Ehren. Es erstaunte sie, als ich sagte, ich könne den Fuß nicht «verstehen». «Aber er ist wie ein Torbogen», entgegnete sie und begann, einen Fuß zu skizzieren - eine Zeichnung, wie sie ein Ingenieur angefertigt hätte. Sie stellte den Fuß aus jedem Blickwinkel dar, um mir klar zu machen, wie er Stabilität mit Flexibilität verband, wie ideal er nach Plan oder Evolution für das Gehen geschaffen war (obwohl er offensichtlich auch Reste seiner ursprünglichen Greiffunktion bewahrt hatte).
Mir fehlte die Vorstellungskraft meiner Mutter, ihr Sinn für mechanische und technische Zusammenhänge, aber ich fand es wunderbar, wenn sie vom Fuß sprach und in rascher Folge die Füße von Eidechsen und Vögeln, Pferdehufe oder Löwenpranken und eine Reihe von Primatenfüßen zeichnete. Doch diese Freude an anatomischen Einblicken und Erkenntnissen ging bei den Schrecken des Sezierens größtenteils verloren, und diese Empfindungen griffen auch auf das Leben außerhalb des Seziersaals über - ich wusste nicht, ob ich je in der Lage sein würde, die warmen, geschmeidigen Körper der Lebenden zu lieben, nachdem ich vor der formalingetränkten Leiche eines Mädchens meines Alters gestanden, ihren Geruch eingeatmet und sie zerschnitten hatte.
KAPITEL ZWANZIG
DURCHDRINGENDE STRAHLEN
Auf Abes Dachboden lernte ich die Kathodenstrahlen kennen. Er hatte eine sehr leistungsfähige Vakuumpumpe und eine Induktionsspule - einen Zylinder von gut einem halben Meter Länge, der mit vielen Kilometern Kupferdraht dicht umwickelt und auf einen Mahagonifuß montiert war. Über der Spule befanden sich zwei große bewegliche Messingelektroden. Wenn man die Spule einschaltete, wurde zwischen diesen beiden ein enormer Funken erzeugt, ein Miniaturblitz wie aus Frankensteins Labor. Onkel vergrößerte den Abstand zwischen den Elektroden so weit, dass sie keine Funken mehr bildeten, und schloss sie an eine Vakuumröhre von einem Meter Länge an. Als er den Druck in der elektrisch aufgeladenen Röhre verringerte, zeigte sich in ihrem Inneren eine Reihe außergewöhnlicher Erscheinungen: zunächst ein flackerndes Licht mit roten Streifen, eine Art Miniaturnordlicht, dann eine strahlend helle Lichtsäule, die die ganze Röhre füllte. Bei einer weiteren Reduktion des Drucks zerfiel die Säule in Lichtscheiben, durch dunkle Zwischenräume getrennt. Schließlich, bei einer zehntausendstel Atmosphäre, fiel im Inneren der Röhre wieder alles ins Dunkel, dafür begann ihr Ende hell zu fluoreszieren. Die Röhre sei nun, sagte Onkel, mit Kathodenstrahlen gefüllt, kleinen Teilchen, die von der Kathode mit einem Zehntel der Lichtgeschwindigkeit abgeschossen würden und die so energiereich seien, dass sie, von einer tellerförmigen Kathode gebündelt, ein Stück Platinfolie auf Rotglut erhitzen könnten. Ich hatte ein bisschen Angst vor diesen Kathodenstrahlen (wie als Kind vor den ultravioletten Strahlen in der Praxis), denn sie waren unsichtbar und wirksam zugleich. Ich fragte mich, ob sie im
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