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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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erstaunt an. «Jonathan? Jonathan geht es gut.»
    «Aber die Röntgenaufnahmen», sagte ich. «Ich habe mir die Röntgenaufnahmen angesehen.»
    Zunächst verstand sie mich nicht, dann brach sie in schallendes Gelächter aus, sie lachte, bis ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Das «J» stehe nicht für Jonathan, stieß sie schließlich hervor, sondern für ein anderes Familienmitglied - Jezebel. Jezebel, unsere neue Boxerhündin, litt an Blut im Urin, deshalb hatte meine Mutter sie mit ins Krankenhaus genommen und Röntgenaufnahmen von ihrer Niere machen lassen. Was ich für eine grauenhaft missgebildete menschliche Anatomie gehalten hatte, war in Wirklichkeit der vollkommen normal gewachsene Bewegungsapparat eines Hundes. Wie hatte ich einen so absurden Fehler begehen können? Ein Mindestmaß an Kenntnissen, ein bisschen gesunder Menschenverstand hätte mir doch alles klar machen müssen - meine Mutter, eine Anatomieprofessorin, schüttelte ungläubig den Kopf.
    Irgendwann in den dreißiger Jahren verlegte sich meine Mutter von der allgemeinen Chirurgie auf die Gynäkologie und Geburtshilfe. Sie liebte die Herausforderung einer schwierigen Geburt - ein Armvorfall, eine Steißlage, die sie zu einem guten Ende brachte. Gelegentlich aber nahm sie missgebildete Feten mit nach Hause - Geschöpfe mit Anenzephalie, denen herausquellende Augen oben auf den abgeflachten, hirnlosen Köpfen saßen, oder mit Spina bifida, bei denen das gesamte Rückenmark und der Hirnstamm offen lagen. Einige waren tot geboren, andere hatten die Krankenschwester und sie stillschweigend bei der Geburt ertränkt («wie ein Kätzchen», sagte sie einmal), in dem Wissen, dass diese armen Wesen zu keinem bewussten oder geistigen Leben in der Lage waren. Eifrig bestrebt, mich möglichst früh in Anatomie und Medizin zu unterweisen, sezierte sie mehrere dieser Feten für mich und bestand dann darauf, dass ich, obwohl erst elf, sie selbst sezierte. Ich glaube, sie hat nie gemerkt, wie sehr mich das mitnahm, wahrscheinlich hat sie gedacht, es würde mir genauso viel Freude machen wie ihr. Zwar hatte ich aus eigenem Antrieb angefangen, Regenwürmer, Frösche und meinen Tintenfisch zu sezieren, aber das Sezieren dieser menschlichen Feten erfüllte mich mit Abscheu. Meine Mutter erzählte mir oft, dass sie sich, als ich ein Säugling war, über das Wachstum meines Schädels Sorgen gemacht habe, denn sie habe befürchtet, die Fontanellen hätten sich zu früh geschlossen und ich könnte nun ein mikrozephaler Idiot werden. Folglich sah ich in diesen Feten, was ich (zumindest in meiner Vorstellung) selbst hätte werden können. Das erschwerte es mir, die nötige Distanz zu gewinnen, und vergrößerte meinen Schrecken.
    Obwohl praktisch schon bei meiner Geburt feststand, dass ich Arzt würde (Chirurg, wie meine Mutter hoffte), nahmen mich diese verfrühten Erfahrungen gegen die Medizin ein, weckten den Wunsch in mir, mich ihr zu entziehen und den Pflanzen zu widmen, die keine Gefühle hatten, und mich vor allem mit Kristallen, Mineralien und Elementen zu beschäftigen, die in einem Reiche zu Hause waren, in dem es nicht Elend oder Leid, nicht Krankheit noch Tod gab.
    Als ich vierzehn wurde, verabredete meine Mutter mit einer Kollegin, einer Anatomieprofessorin am Royal Free Hospital, dass sie mich in die Anatomie einführe. Professor G. geleitete mich also in den Seziersaal - und dort lagen auf langen Tischen die Leichen, in gelbe Ölleinwand eingewickelt (um die freigelegten Gewebe am Eintrocknen zu hindern, solange sie nicht seziert wurden). Es war das erste Mal, dass ich einen Leichnam sah, und die Körper wirkten seltsam geschrumpft und klein auf mich. In der Luft hing ein schrecklicher Geruch nach brandigem Fleisch und Konservierungsmitteln, sodass ich beim Eintritt fast ohnmächtig wurde - mir wurde schwarz vor Augen und sehr übel. Professor G. sagte, sie habe schon einen Leichnam für mich ausgesucht, den Körper eines vierzehnjährigen Mädchens. Ein Teil war bereits seziert worden, aber es gab noch ein hübsches, unberührtes Bein, an dem ich mich versuchen dürfe. Ich hätte gern gewusst, wer das Mädchen war, woran sie gestorben, was an ihrem frühen Tod schuld war - doch Professor G. hielt es für besser, mich nicht zu informieren, und in gewisser Weise erleichterte es mich, denn ich hätte mich vor den Antworten gefürchtet. Das hier musste ein Kadaver für mich sein, ein namenloses Ding aus Nerven und Muskeln, Geweben und Organen, das es zu

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