Onkel Wolfram - Erinnerungen
Halbdunkel des Dachbodens aus der Röhre lecken und uns treffen könnten.
Kathodenstrahlen, so erläuterte mir Onkel Abe, könnten in gewöhnlicher Luft nur fünf bis sieben Zentimeter zurücklegen; es gebe jedoch eine andere Art von Strahlung, die Wilhelm Röntgen 1895 bei Experimenten mit einer Kathodenstrahlröhre entdeckt habe. Röntgen hatte die Röhre mit einem Zylinder aus schwarzer Pappe abgedeckt, damit keine Kathodenstrahlen hinausgelangen konnten, und doch konnte er voller Staunen beobachten, dass ein Leuchtschirm, der mit einem fluoreszierenden Stoff bestrichen war, bei jeder Entladung der Röhre hell aufblitzte, obwohl die halbe Länge des Raums dazwischenlag.
Röntgen stellte kurz entschlossen seine anderen Forschungsprogramme zurück und widmete sich ganz der Erforschung dieses vollkommen unerwarteten und fast unglaublichen Phänomens. Mehrfach wiederholte er das Experiment, um sich davon zu überzeugen, dass der Effekt keine Täuschung war. (Seiner Frau gegenüber äußerte er, wenn er anderen nicht mit dem überzeugendsten Beweis komme, würde es heißen, «Röntgen ist verrückt geworden».) Während der nächsten sechs Wochen untersuchte er die Eigenschaften dieser außerordentlich durchdringenden neuen Strahlen und stellte fest, dass sie im Gegensatz zu sichtbarem Licht offenbar nicht gebrochen oder gebeugt werden konnten. Er testete ihre Fähigkeit, alle Arten von festen Körpern zu durchdringen, und fand heraus, dass sie bis zu einem gewissen Maße durch die meisten gewöhnlichen Stoffe gehen und immer noch einen Fluoreszenzschirm aktivieren konnten. Als Röntgen die Hand vor den Fluoreszenzschirm hielt, sah er zu seinem Erstaunen die geisterhafte Silhouette der eigenen Knochen. Auf ähnliche Weise wurde eine Reihe Metallgewichte in ihrer Holzkiste sichtbar - Holz und Fleisch ließen sich für die Strahlen überhaupt leichter durchdringen als Metall oder Knochen. Auch auf fotografische Platten wirkten die Strahlen ein, wie er feststellte. So konnte er in seinem ersten Artikel Fotografien veröffentlichen, die mit X-Strahlen - so nannte er sie - aufgenommen worden waren, darunter auch ein Radiogramm der Hand seiner Frau mit dem Ehering lose auf einem Skelettfinger.
Am 1. Januar 1896 veröffentlichte Röntgen seine Ergebnisse und ersten Radiogramme in einer kleinen wissenschaftlichen Zeitschrift. Innerhalb weniger Tage griffen die großen Zeitungen der Welt die Geschichte auf. Die sensationelle Wirkung seiner Entdeckung erschreckte den schüchternen Röntgen. Nach diesem Artikel und einem Vortrag im gleichen Monat kam er nie wieder auf die X- oder Röntgenstrahlen zu sprechen, sondern konzentrierte sich erneut auf seine verschiedenen Forschungsvorhaben aus den Jahren vor 1896. (Selbst als er 1901 den ersten Nobelpreis für Physik für die Entdeckung der Röntgenstrahlen erhielt, lehnte er es ab, eine Nobelpreisrede zu halten.)
Doch die Nützlichkeit der neuen Technik zeigte sich rasch, und bald wurden auf der ganzen Welt Röntgengeräte für medizinische Zwecke in Gebrauch genommen - um Knochenbrüche, Fremdkörper, Gallensteine und Ähnliches aufzudecken. Bis Ende 1896 waren mehr als tausend wissenschaftliche Artikel über X-Strahlen erschienen. Tatsächlich beschäftigten die Röntgenstrahlen nicht nur Medizin und Wissenschaft, sondern auch die Phantasie der Öffentlichkeit. Für ein oder zwei Dollar konnte man die Röntgenaufnahme eines neun Wochen alten Säuglings erstehen, die «in wunderbarer Genauigkeit die Knochen des Skeletts, das Stadium der Knochenbildung, die Lage von Leber, Magen, Herz etc. zeigt».
Röntgenstrahlen, so meinte man, hätten die Fähigkeit, in die privatesten, verborgensten und geheimsten Lebensbereiche der Menschen einzudringen. Schizophrene waren davon überzeugt, ihre Gedanken würden von Röntgenstrahlen gelesen oder beeinflusst, andere hatten das Gefühl, nichts sei mehr sicher. «Man kann die Knochen anderer Menschen mit bloßem Auge sehen», beklagte ein Leitartikler, «selbst zwanzig Zentimeter dickes Holz ist kein Hindernis für den Röntgenblick. Wie empörend und schamlos das ist, bedarf keiner Erwähnung.» Man kaufte bleigefüttertes Unterzeug, um den Intimbereich vor den alles durchschauenden Strahlen zu schützen. In der Zeitschrift Photography erschien ein Spottlied, dessen Schluss lautete:
I hear they'll gaze
through cloak and gown - and even stays,
these naughty, naughty,
Roentgen rays. [57]
Mein Onkel Yitzchak, der meinen Vater in den Monaten
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