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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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ungewöhnlich nahrhafte Mahlzeit versprach. Er führte das «Brot» zum Mund, biss herzhaft hinein und wurde mit einem lauten Knacken belohnt, als einer seiner Zähne abbrach. Sofort spuckte er den Bissen aus. Ein oder zwei Wölflinge kicherten kurz, dann herrschte tödliches Schweigen. Alle Mitglieder des Wolfsrudels schauten auf mich.
    «Wie hast du den Damper gemacht, Sacks?», fragte Mr. Baron mit bedrohlich ruhiger Stimme. «Was hast du da hineingetan?»
    «Zement, Sir», antwortete ich, «ich konnte kein Mehl finden.»
    Das Schweigen vertiefte sich, zog sich hin; alles schien zu einem bewegungslosen Tableau zu erstarren. In dem Bemühen, sich zu beherrschen und mich nicht zu schlagen (denke ich), hielt Mr. Baron eine kurze, emotionsgeladene Rede: Ich hätte eigentlich den Eindruck eines ganz netten Jungen gemacht, anständig, wenn auch schüchtern und entsetzlich ungeschickt, aber dieser Damper werfe doch grundlegende Fragen auf. Wusste ich, was ich tat? War es meine Absicht, Unheil anzurichten? Ich wollte sagen, es sei nur ein Scherz gewesen, brachte aber kein Wort heraus. Sei ich nur unglaublich dumm, fragte Mr. Baron weiter, oder vielmehr bösartig, vielleicht verrückt? Was immer zutreffe, ich hätte mich eines groben Fehlverhaltens schuldig gemacht, meinen Pfadfinderführer verletzt und die Ideale des Wolfsrudels mit Füßen getreten. Ich verdiente es nicht, ein Pfadfinder zu sein. Mit diesen Worten verbannte mich Mr. Baron ein für alle Mal aus den Reihen der Cub Scouts.
    Der Terminus «ausagieren» war noch nicht erfunden, aber das Konzept wurde schon häufig diskutiert, einen guten Kilometer von der Schule entfernt, in Anna Freuds Hampstead Clinic. Dort arbeitete sie mit Kindern und Jugendlichen, die als Folge traumatisch erlebter Evakuierungen verschiedenste Verhaltensauffälligkeiten zeigten.
    Die Willesden Public Library war ein seltsam dreieckiger Bau quer zur Willesden Lane und nur ein paar Minuten von uns entfernt. Von außen wirkte das Gebäude täuschend klein, doch in seinem Inneren erwies es sich als riesig, mit Dutzenden von Erkern und Nischen voller Bücher - mehr Bücher, als ich in meinem Leben je gesehen hatte. Sobald die Bibliothekarin sich vergewissert hatte, dass ich die Bücher pfleglich behandelte und mit der Kartei umgehen konnte, ließ sie mir freie Hand in der Bücherei. Ich durfte Bücher aus der Zentralbibliothek bestellen und manchmal sogar seltene Bücher mit nach Hause nehmen. Ich verschlang alles und unsystematisch: Ich überflog und schwebte und schmökerte in den Büchern nach Herzenslust, und obwohl meine Interessen schon eindeutig in den Naturwissenschaften wurzelten, griff ich gelegentlich genauso nach Abenteuer- und Detektivgeschichten. The Hall, meine Schule, hatte keinen naturwissenschaftlichen Zweig und bot daher wenig Interessantes für mich - unser Lehrplan war damals ausschließlich humanistisch ausgerichtet. Doch das spielte keine Rolle, das Wissen, das mich wirklich bildete, bezog ich aus meiner Lektüre. Meine Freizeit verbrachte ich, wenn nicht bei Onkel Dave, wohl verteilt zwischen der Bibliothek und den Museen in South Kensington. Für meine Kindheit und Jugend hatten Letztere außerordentliche Bedeutung.
    Besonders die Museen gestatteten mir meine eigenen Wege. Ich konnte von einer Vitrine zur nächsten, einer Ausstellung zur anderen wandern, ohne mich an einen Lehrplan halten, ohne Stunden besuchen, Prüfungen bestehen oder konkurrieren zu müssen. Das Dasitzen im Unterricht, in der Schule, hatte etwas Passives, Erzwungenes, während man sich in Museen aktiv verhalten, seiner Neugier folgen konnte wie in der realen Welt. Die Museen - und der Zoo und der botanische Garten in Kew weckten in mir den Wunsch, die Welt zu bereisen und für mich zu erforschen, Steine- oder Pflanzensammler zu werden, Zoologe oder Paläontologe. (Fünfzig Jahre danach besuche ich noch immer mit Vorliebe die naturkundlichen Museen und botanischen Gärten, wenn ich in eine unbekannte Stadt oder ein fremdes Land komme.)
    Man betrat das Geologische Museum wie einen Tempel, durch einen großen Marmorbogen, der von riesigen Bodenvasen aus blauem Derbyshire-Flussspat flankiert war. Im Erdgeschoss standen dicht bestückte Vitrinen und Schaukästen mit Mineralien und Edelsteinen. Es gab Dioramen mit Vulkanen, Blasen werfenden Schlammlöchern, abkühlender Lava, kristallisierenden Mineralien, den langsamen Prozessen von Oxidation und Reduktion, Steigen und Fallen, Mischung und Metamorphose.

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