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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Elementen und ihrer Entdeckung - wobei mich nicht nur die chemischen, sondern auch die menschlichen Aspekte solchen Abenteuers faszinierten. All das und noch mehr entnahm ich einem wunderbaren Buch, das kurz vor dem Krieg erschienen war: The Discovery of the Elements von Mary Elvira Weeks. Hier bekam ich einen lebhaften Eindruck vom Leben vieler Chemiker, ihrem höchst vielseitigen und manchmal auch wunderlichen Charakter. Es gab Zitate aus den Briefen der frühen Chemiker, in denen sich ihre Begeisterung und Verzweiflung widerspiegelten, während sie sich mühsam an ihre Entdeckungen herantasteten, manchmal vom richtigen Weg abkamen und in Sackgassen stecken blieben, bis sie schließlich doch an das Ziel kamen, das ihnen vorgeschwebt hatte.
    Geschichte und Geographie meiner Kindheit, die Geschichte und die Geographie, die mich beeindruckt haben, hatten weit mehr mit der Chemie zu tun als mit Kriegen oder weltgeschichtlichen Ereignissen. Mich interessierten die Geschicke der frühen Chemiker viel mehr als die Geschicke der rivalisierenden Kriegsmächte (vielleicht verhalfen sie mir sogar zu einer Abkapselung von der mich umgebenden erschreckenden Wirklichkeit. Ich sehnte mich nach dem «äußersten Thule» im hohen Norden, der Heimstatt des Elements Thulium, und nach dem kleinen Dorf Ytterby in Schweden, das seinen Namen nicht weniger als vier Elementen gegeben hatte (Ytterbium, Terbium, Erbium, Yttrium). Ich wäre gern nach Grönland gefahren, wo ich mir ganze Gebirgszüge aus durchsichtigem, geisterhaftem Kryolith vorstellte. Auch Strontian in Schottland hätte ich gerne gesehen, das kleine Dorf, dem Strontium seinen Namen verdankte. Die ganze Landkarte Großbritanniens ließ sich unter dem Gesichtspunkt seiner vielen Bleimineralien betrachten: Matlockit nach Matlock in Derbyshire, Leadhillit nach den Leadhills in Lanarkshire, Lanarkit ebenfalls nach Lanarkshire und das schöne Bleisulfat, der Anglesit, nach Anglesey in Wales. (Es gab sogar die Stadt Lead - Blei - in South Dakota, und ich stellte sie mir gerne aus matt glänzendem Blei erbaut vor.) Wie Lichter stachen die geographischen Namen von Elementen und Mineralien auf meiner persönlichen Weltkarte heraus.
    Der Anblick der Mineralien im Museum veranlasste mich, für ein paar Pennys kleine Beutel mit «gemischten Mineralien» in einem Laden in der Nachbarschaft zu erstehen; sie enthielten kleine Stücke Pyrit, Bleiglanz, Flussspat, Rotkupfererz, Hämatit oder Eisenglanz, Gips, Eisenspat, Malachit und verschiedene Quarzarten, die Onkel Dave durch seltenere Exemplare ergänzte, winzige Stückchen Scheelit, die von seinem größeren Brocken abgebrochen waren. Die meisten meiner Mineralien wirkten ziemlich kläglich, oft waren es Winzstücke, die ein echter Sammler keines Blickes gewürdigt hätte, aber sie gaben mir das Gefühl, eine Kostprobe der Natur ganz für mich allein zu haben.
    Ich betrachtete die Mineralien im geologischen Museum, beschäftigte mich mit ihren chemischen Formeln und lernte allmählich ihre Zusammensetzung kennen. Einige waren einfach und unveränderlich. Das galt für Zinnober, ein Quecksilbersulfid, das stets den gleichen Anteil von Quecksilber und Schwefel enthielt, egal, woher die Probe stammte. Bei vielen Mineralien verhielt es sich allerdings ganz anders, etwa bei dem von Onkel Dave so geschätzten Scheelit. Scheelit ist zwar ein Kalziumwolframat von idealer Reinheit, doch enthielten einige Exemplare auch eine gewisse Menge an Kalziummolybdat. Umgekehrt kommt reines Kalziummolybdat in der Natur als das Mineral Powellit vor, doch einigen Powellitexemplaren waren auch kleine Mengen von Kalziumwolframat beigemengt. Es ließe sich in der Tat jede Zwischenstufe zwischen den beiden denken, von einem Mineral aus 99 Prozent Wolfram und einem Prozent Molybdän bis zu einem aus 99 Prozent Molybdat und einem Prozent Wolframat. Zum einen liegt es daran, dass Wolfram und Molybdän Atome - Ionen - von ähnlicher Größe besitzen, sodass ein Ion des einen Elements ein Ion des anderen im Kristallgitter des Minerals ersetzen kann. Vor allem aber liegt es daran, dass Wolfram und Molybdän zur gleichen chemischen Gruppe oder Familie gehören und die Natur sie angesichts ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften weitgehend gleich behandelt. Deshalb gehen Wolfram und Molybdän mit anderen Elementen in der Regel fast identische Verbindungen ein und kommen in der Natur meist als Salze ihrer Säuren vor, die unter ähnlichen Bedingungen aus

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