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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Auf diese Weise erhielt man nicht nur einen Eindruck von den Produkten, die die Erdaktivitäten hervorbrachten - den Steinen und Mineralien -, sondern auch von den fortwährenden Prozessen selbst, den physikalischen und chemischen.
    Im oberen Stockwerk befand sich eine riesige Sammlung von Antimoniten - glänzend schwarze, speerartige Prismen aus Antimonsulfid. In Onkel Daves Labor hatte ich Antimonsulfid als unansehnliches schwarzes Pulver kennen gelernt, doch hier sah ich Kristalle von anderthalb bis zwei Metern Höhe. Ich betete diese Prismen förmlich an, sie wurden eine Art Totem oder Fetisch für mich. Es hieß, diese wunderbaren Kristalle, weltweit die größten ihrer Art, stammten aus der Ichinokawa-Mine auf der japanischen Insel Shikoku. Ich nahm mir vor, die Insel zu besuchen, wenn ich erwachsen wäre, und diesem Gott meine Achtung zu bezeugen. Später erfuhr ich, dass Antimonit an vielen Orten gefunden wird, doch durch diese erste Begegnung hat er sich in meiner Vorstellung unauflöslich mit Japan verbunden, sodass es für immer das Land des Antimonits wurde, so wie Australien für mich nicht nur das Land des Kängurus und des Schnabeltiers ist, sondern auch das des Opals.
    Das Museum verfügte auch über große Bestände an Galenit - Bleiglanz -, insgesamt sicherlich mehr als eine Tonne -, der schimmernde dunkelgraue Würfel von zehn bis fünfzehn Zentimetern Durchmesser bildete. Sie schlössen oft kleinere Würfel ein, die wiederum, wie ich durch meine Taschenlupe erkennen konnte, noch kleinere Würfel in sich trugen. Als ich Onkel Dave davon berichtete, bestätigte er, Bleiglanz sei durch und durch kubisch. Selbst wenn ich ihn eine Million Mal vergrößerte, würde ich immer noch Würfel sehen, die aus noch kleineren Würfeln bestünden. Darin komme wie bei allen Kristallen die Anordnung der Atome zum Ausdruck, die festgelegten dreidimensionalen Muster oder Gitter, die sie bildeten. Der Grund seien die Bindungen zwischen ihnen, Bindungen von elektrostatischer Natur. Und die konkrete Anordnung der Atome in einem Kristallgitter, sagte Onkel, spiegele die dichteste Packung wider, die die Anziehungs- und Abstoßungskräfte der Atome zuließen. Dass sich ein Kristall aus der Wiederholung unzähliger identischer Gitter aufbaute, dass es im Grunde ein einziges riesiges, sich selbst wiederholendes Gitter war, erschien mir wunderbar. Kristalle waren wie Riesenmikroskope, die es einem erlaubten, die Konfiguration der Atome in ihrem Inneren zu erkennen. Vor meinem geistigen Auge konnte ich die Blei- und Schwefelatome fast sehen, die den Galenit, den Bleiglanz aufbauten. Ich stellte mir vor, sie würden unter dem Einfluss der elektrischen Energie etwas vibrieren, ansonsten aber fest an ihrem Platz gehalten, mitei- nander verbunden und zu einem unendlichen würfelförmigen Gitter angeordnet.
    Ich malte mir aus (vor allem, nachdem ich die Geschichten meiner Onkel aus ihrer Zeit in den Diamantenbergwerken gehört hatte), ich sei selbst eine Art Kindergeologe, der mit Hammer und Meißel nie erblickte Mineralien entdeckte. Tatsächlich ging ich in unserem Garten auf die Suche, fand aber außer ein paar merkwürdig geformten Marmor- und Feuersteinsplittern kaum etwas. Ich träumte davon, geologische Exkursionen zu unternehmen, um das Muster der Gesteinsschichten, den Reichtum der mineralischen Welt mit eigenen Augen zu sehen. Dieser Wunsch bekam zusätzliche Nahrung durch meine Lektüre, die nicht nur die Berichte der großen Naturforscher und Entdecker umfasste, sondern auch bescheidenere Bücher wie Danas schmales Bändchen The Geological Story mit seinen schönen Abbildungen und mein Lieblingsbuch aus dem 19. Jahrhundert Playbook of Metals , mit dem Untertitel Personal Narratives of Visits to Cool, Lead, Copper and Tin Mines (Persönliche Berichte über Besuche in Kohle-, Blei-, Kupfer- und Zinnbergwerken). Ich wollte die verschiedensten Bergwerke selbst sehen, aber nicht nur Kupfer-, Blei- und Zinnbergwerke in England, sondern auch die Gold- und Diamantenminen, die meine Onkel nach Afrika gelockt hatten. Das konnte mir das Museum zwar nicht geben, dafür aber einen Mikrokosmos der Welt - kompakt, anziehend, ein Konzentrat der Erfahrungen unzähliger Sammler und Forschungsreisender, ihrer materiellen Schätze, ihrer Überlegungen und Gedanken.
    Ich verschlang die Informationen, die die Beschreibungen der verschiedenen Exponate lieferten. Neben der Mineralogie selbst liebte ich auch die schönen und oft altertümlichen

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