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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Lösungen kristallisieren.
    Diese beiden Elemente erschienen mir als ein natürliches Paar, wie chemische Brüder. Eine noch engere brüderliche Beziehung unterhalten die Elemente Niob und Tantal, die in Mineralien meist gemeinsam vorkommen. Fast zu einem Zwillingsverhältnis wird die Brüderbeziehung bei den Elementen Zirkonium und Hafnium, die nicht nur stets in den gleichen Mineralien vorkommen, sondern sich auch chemisch so ähneln, dass man hundert Jahre brauchte, um sie zu unterscheiden - die Natur selbst kann sie kaum unterscheiden.
    Bei meinen Streifzügen durch das geologische Museum bekam ich auch einen Eindruck von der enormen Vielfalt, den Tausenden von verschiedenen Mineralien in der Erdkruste und der relativen Häufigkeit der in ihnen vorkommenden Elemente. Sauerstoff und Silizium waren überwältigend häufig - es gab mehr Silikatmineralien als andere Mineralarten, von all dem Sand auf der Erde ganz zu schweigen. Man konnte sehen, dass zusammen mit den Standardgesteinen - den Kalken und Feldspaten, den Graniten und Dolomiten - Magnesium, Aluminium, Kalzium, Natrium und Kalium neun Zehntel oder mehr der Erdkruste ausmachen. Auch Eisen war häufig; offenbar waren riesige Gebiete Australiens so eisenrot wie der Mars. Kleine Bruchstücke all dieser Elemente konnte ich meiner eigenen Sammlung in Form von Mineralien hinzufügen.
    Das 18. Jahrhundert, so erzählte mir Onkel, sei eine große Zeit der Entdeckung und Isolierung neuer Metalle gewesen (nicht nur des Wolframs, sondern auch Dutzender anderer). Die größte Herausforderung für die Chemiker des 18. Jahrhunderts bestand in der Frage, wie sich diese Metalle von ihren Erzen trennen ließen. Dadurch wurde die Chemie, die echte Chemie, erwachsen: indem sie zahllose verschiedene Mineralien untersuchte, analysierte, zerlegte, um zu sehen, was sie enthielten. Für die echte chemische Analyse - die Überprüfung, womit die Mineralien reagierten oder wie sie sich verhielten, wenn sie erwärmt oder aufgelöst würden - war natürlich ein Labor erforderlich, aber es gab elementare Beobachtungen, die fast überall vorgenommen werden konnten. Man konnte ein Mineral in der Hand wägen, seine Dichte schätzen, seinen Glanz betrachten oder die Farbe seines Strichs auf einer Porzellanplatte beurteilen. Die Härte weist große Unterschiede auf, sodass man sich leicht einen ersten Eindruck verschaffen konnte -Talk und Gips lassen sich mit einem Fingernagel ritzen, Kalzit mit einer Münze, Flussspat und Apatit mit einem Stahlmesser und gemeiner Feldspat mit einer Stahlfeile. Quarz ritzt Glas und Korund ritzt alles bis auf Diamanten.
    Eine klassische Methode zur Bestimmung der relativen Dichte oder des spezifischen Gewichts einer Probe besteht darin, sie zweimal zu wiegen, einmal in der Luft und einmal im Wasser, um das Verhältnis ihrer Dichte zu der des Wassers zu ermitteln. Bei einem anderen Verfahren - einem, das mir besonderen Spaß machte - wird der Auftrieb verschiedener Mineralien in Flüssigkeiten von verschiedenem spezifischem Gewicht bestimmt. Dazu muss man «schwere» Flüssigkeiten verwenden, denn alle Mineralien, von Eis abgesehen, sind dichter als Wasser. Ich besorgte mir also eine Reihe schwerer Flüssigkeiten: zunächst Bromoform, das fast dreimal so dicht ist wie Wasser, dann Methylenjodid, das noch dichter ist, und schließlich eine gesättigte Lösung aus zwei Thalliumsalzen, die Clericische Lösung. Letztere hat ein spezifisches Gewicht von weit über vier. Und obwohl sie aussieht wie gewöhnliches Wasser, schwimmen viele Mineralien und sogar Metalle auf ihr. Ich genoss es, mein Fläschchen mit Clericischer Lösung mit in die Schule zu nehmen und jeden Beliebigen zu bitten, sie einmal zu halten. Verblüfft blickten sie mich dann an, denn das Gewicht, das sie spürten, war fast fünfmal höher, als sie erwartet hätten.
    Ich war schüchtern in der Schule (in einem Zeugnis wurde ich als «scheu» bezeichnet), und Braefield hatte mich sicherlich noch ängstlicher gemacht, doch wenn es um eines meiner Naturwunder ging - einen Bombensplitter oder ein Stück Wismut mit seinen Prismenterrassen, die aussahen wie ein Aztekendorf en miniature, mein Fläschchen mit der verblüffend und verwirrend schweren Clericischen Lösung oder Gallium, das in der Hand schmolz (später besorgte ich mir eine Form und fertigte einen Teelöffel aus Gallium, der schrumpfte und schmolz, wenn man damit Tee umrührte) -, dann verlor ich all meine Scheu und ging unbekümmert auf

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