Onkel Wolfram - Erinnerungen
denen zuerst einmal Pflanzenfarbstoffe verwendet wurden, die sich unter dem Einfluss von Säuren und Alkalien veränderten. Der häufigste Pflanzenfarbstoff war Lackmus. Laut Griffin wurde er aus einer Flechte gewonnen. Ich nahm mir Lackmuspapier aus dem Medizinschrank meines Vaters und beobachtete, wie es sich bei verschiedenen Säuren rot und bei alkalischem Ammoniak blau färbte.
Griffin beschrieb Bleichexperimente, bei denen ich allerdings das Bleichmittel meiner Mutter und nicht das von ihm vorgeschlagene Chlorwasser verwendete. Damit bleichte ich Lackmuspapier, Rotkohlsaft und ein rotes Taschentuch meines Vaters. Ferner schlug Griffin vor, eine rote Rose über brennenden Schwefel zu halten, das dabei freigesetzte Schwefeldioxid würde dann die Blume bleichen. Ins Wasser getaucht, erhalte sie wie durch ein Wunder ihre Farbe zurück.
Anschließend thematisierte Griffin (und ich mit ihm) «unsichtbare Tinten». Sie wurden nur sichtbar, wenn man sie erwärmte oder auf bestimmte Weise behandelte. Ich probierte verschiedene Spielarten aus - Bleisalze, die sich in Berührung mit Schwefelwasserstoff schwarz färbten; Silbersalze, die schwarz wurden, wenn man sie dem Licht aussetzte; Kobaltsalze, die bei Trocknung oder Erwärmung sichtbar wurden. All das war ein Riesenspaß, aber auch Chemie.
Im Haus fanden sich diverse alte Chemiebücher, einige stammten noch aus dem Medizinstudium meiner Eltern, andere, jüngere aus der Schulzeit meiner älteren Brüder Marcus und David. Zu ihnen gehörte Valentins Practical Chemistry , ein typisches Lehrbuch, klar, handfest, nüchtern, als praktischer Leitfaden gedacht und für mich trotzdem voller Wunder. Auf der Innenseite des Buchdeckels trug es, verblichen und verfleckt (Zeugnis seiner langjährigen Dienste im Labor), die Widmung «Mit den besten Glückwünschen, 21.1.13 - Mick». Meine Mutter hatte es an ihrem 18. Geburtstag von ihrem fünfundzwanzigjährigen Bruder erhalten, der sich damals bereits als Chemiker in der Forschung betätigte. Onkel Mick, ein jüngerer Bruder von Dave, war mit seinen Brüdern nach Südafrika gegangen und hatte nach seiner Rückkehr in einem Zinnbergwerk gearbeitet. Er habe Zinn geliebt wie Onkel Dave das Wolfram, hieß es, weshalb er in der Familie auch manchmal Onkel Zinn genannt wurde. Onkel Mick habe ich nicht mehr kennen gelernt, denn er starb - erst fünfundvierzig Jahre alt - in dem Jahr an Krebs, als ich geboren wurde. Nach Meinung der Familie wurde er ein Opfer der hohen Radioaktivität in den Uranbergwerken Afrikas. Meine Mutter hatte ihm besonders nahe gestanden, deshalb war er in ihrer Erinnerung sehr lebendig und gegenwärtig. Zu wissen, dass es das Chemiebuch meiner Mutter war und sie es von dem jungen, früh verstorbenen Onkel und Chemiker erhalten hatte, machte das Buch für mich besonders kostbar.
In viktorianischer Zeit war das Interesse an der Chemie sehr verbreitet, viele Haushalte besaßen ihre eigenen Labors, wie sie ihre Farnhäuser und Stereoskope hatten. Griffins Chemical Recreations kam um 1830 heraus und erfreute sich solcher Beliebtheit, dass es ständig neu durchgesehen und wieder verlegt wurde. Ich hatte die zehnte Auflage. [8]
Ergänzend zu Griffins Buch erschien - wie dieses in Grün und Gold gehalten - The Science of Home Life von A. J. Bernays. Ein Werk, das sich mit Kohle, Steinkohlengas, Kerzen, Seife, Glas, Porzellan, Steingut und Desinfektionsmitteln beschäftigte, mit allem, was sich in einem viktorianischen Heim so fand (und vielem, was noch hundert Jahre später zum Haushalt gehörte).
Ganz anders nach Stil und Inhalt, wenn auch verwandt in der Absicht, im Leser Staunen zu wecken («Das alltägliche Leben ist voller Wunder chemischer und physiologischer Art. Die meisten von uns gehen durch dieses Leben, ohne sie zu sehen oder für sie empfänglich zu sein…»), war The Chemistry of Common Life von J. F.W. Johnston. Es stammte ebenfalls etwa aus dieser Zeit und enthielt faszinierende Kapitel über «Die Düfte, die uns gefallen», «Die Gerüche, die uns missfallen», «Die Farben, die wir bewundern», «Der Körper, den wir pflegen», «Die Pflanzen, die wir aufziehen», und nicht weniger als acht Kapitel über «Die Rauschgifte, denen wir frönen». Auf diese Weise lernte ich nicht nur die Chemie kennen, sondern auch ein ganzes Panorama von exotischen menschlichen Verhaltensweisen und Kulturen.
Ein sehr viel früheres Buch, von dem ich nur ein ramponiertes Exemplar für sechs Penny ergattern konnte -
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