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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Privileg, sie zu atmen.
    Im Oktober 1774 reiste Priestley nach Paris und berichtete Lavoisier von seiner «dephlogistierten Luft». Und der erkannte darin etwas, was Priestley verborgen geblieben war - den entscheidenden Hinweis auf das, was ihn selbst verwirrt und befremdet hatte: die wirkliche Natur dessen, was bei Verbrennung und Verkalkung geschieht. [16] Er wiederholte Priestleys Experimente, wobei er sie erweiterte, quantifizierte und verbesserte. Die Verbrennung, so wurde ihm jetzt klar, war kein Prozess, bei dem eine Substanz (Phlogiston) verloren ging, sondern bei dem eine Verbindung des brennbaren Stoffes mit einem Teil der atmosphärischen Luft stattfand, einem Gas, für das er nun den Begriff Oxygène , Sauerstoff, prägte. [17] Lavoisiers Beweis, dass die Verbrennung ein chemischer Prozess war - Oxidation, wie man es fortan nennen konnte -, hatte weitreichende Bedeutung. Für Lavoisier bildete er nur das Bruchstück eines weit umfassenderen Entwurfs, der Revolution in der Chemie, die er sich vorgenommen hatte. Das Verbrennen von Metallen in geschlossenen Retorten hatte ihm gezeigt, dass es keine geheimnisvolle Gewichtszunahme durch «Feuerteilchen» und keine Gewichtsabnahme durch den Verlust von Phlogiston gab, woraus er schloss, dass bei solchen Prozessen weder Materie entsteht noch verloren geht. Dieses Erhaltungsprinzip galt im Übrigen nicht nur für die Gesamtmasse der Produkte und Reaktionsteilnehmer, sondern für jedes einzelne beteiligte Element. Ließ man Zucker mit Hefe und Wasser in einem geschlossenen Gefäß gären, sodass Alkohol entstand, wie Lavoisier es in einem seiner Experimente tat, blieben die Gesamtmengen von Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff stets gleich. Möglicherweise gingen sie neue chemische Verbindungen ein, doch das änderte nichts an den Mengenverhältnissen.
    Die Erhaltung der Masse ließ auf eine Beständigkeit der Zusammensetzung und Zerlegung schließen. Daher definierte Lavoisier ein Element als einen Stoff, der mit den vorhandenen Mitteln nicht weiter zerlegt werden konnte. Das setzte ihn in die Lage (mit Morveau und anderen), einen Katalog echter Elemente zusammenzustellen - dreiunddreißig verschiedene, nicht zerlegbare, elementare Stoffe, die die vier Elemente der Antike ersetzten. [18] So konnte Lavoisier eine «Bilanz» aufmachen, wie er es nannte, eine genaue Berechnung jedes Elementes in einer Reaktion.
    Nach Lavoisiers Überzeugung musste auch die Sprache der Chemie verändert werden. Er leitete eine Revolution der Nomenklatur ein, indem er die alten, pittoresken, aber wenig informativen Bezeichnungen - beispielsweise Antimonbutter, jovialer Bezoar, blaues Vitriol, Bleizucker, rauchender Spiritus des Libavius, Zinkblumen - durch exakte, analytische, unmissverständliche Begriffe ersetzte. Ein mit Stickstoff, Phosphor oder Schwefel verbundenes Element hieß nun Nitrid, Phosphid oder Sulfid. Entstanden durch das Hinzutreten von Sauerstoff Säuren, sprach man von Salpetersäure, Phosphorsäure und Schwefelsäure, während ihre Salze als Nitrate, Phosphate und Sulfate bezeichnet wurden. Wenn geringere Mengen Sauerstoff im Spiel waren, handelte es sich um Nitrite oder Phosphite statt um Nitrate oder Phosphate und so fort. Jeder Stoff, ob Element oder Verbindung, bekam den ihm zustehenden Namen, der seine chemische Zusammensetzung und Beschaffenheit bezeichnete. Solche Benennungen ließen sich nun wie Terme in der Algebra handhaben und zeigten augenblicklich an, wie die bezeichneten Stoffe unter veränderten Bedingungen miteinander reagieren oder sich verhalten würden. (Obwohl mir die Vorteile der neuen Namen durchaus bewusst waren, vermisste ich die alten wegen ihrer poetischen, ihrer sinnlichen Qualität und ihrer alchimistischen Vergangenheit, die den neuen systematischen und phantasielosen Namen völlig abgingen.)
    Lavoisier ordnete den Elementen keine Symbole zu und entwickelte keine chemischen Gleichungen, doch er schuf die entscheidenden Voraussetzungen dafür. Mich faszinierte besonders sein Begriff der Bilanz, diese Algebra der Wirklichkeit, als Beschreibung für chemische Reaktionen. Als sähe man zum ersten Mal, wie Sprache oder Musik niedergeschrieben wurde. Dank dieser algebraischen Sprache erübrigte es sich, den Nachmittag im Labor zu verbringen, man konnte die Chemie an der Tafel oder im Kopf betreiben.
    Alle Leistungen Lavoisiers - die algebraische Sprache, die Nomenklatur, die Erhaltung der Masse, die Definition eines chemischen Elementes,

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