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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Platten gelenkt wurden. Walters Farbkamera stammte unmittelbar von einem berühmten Experiment her, das Clerk Maxwell 1861 an der Royal Institution durchgeführt hatte. Dabei hatte er eine bunte Schleife mit normalen Schwarzweißplatten durch Filter der drei Grundfarben - rot, grün und violett - fotografiert und die Schwarzweißpositive dieser Bilder durch drei Laternen mit entsprechenden Filtern projiziert. Als sich die drei Schwarzweißbilder genau überlagerten, offenbarten sie plötzlich ihre ganze Farbenpracht. Damit zeigte Maxwell, dass jede Farbe, die das menschliche Auge sieht, aus diesen drei «Grundfarben» konstruiert wird, weil das Auge selbst entsprechend «gestimmte» Farbrezeptoren besitzt und nicht etwa eine unendliche Vielfalt solcher Rezeptoren für jede denkbare Schattierung und Wellenlänge.
    Als Walter mir dies einmal mit drei Laternen vorführte, wollte ich unbedingt selbst über dieses Wunder, diese plötzliche Explosion der Farben, gebieten. Am interessantesten ließ sich dies durch einen Prozess namens Finlaycolor erreichen, bei dem drei Negative zur Trennung der Farben gleichzeitig aufgenommen wurden, wobei man ein Gitternetz mit roten, grünen und violetten Linien verwendete. Von diesem Negativ machte man ein zur Projektion geeignetes Diapositiv und richtete es exakt am Gitter aus. Das war eine schwierige Aufgabe, die viel Feingefühl verlangte, doch bei richtiger Ausrichtung entfaltete das zuvor schwarzweiße Dia plötzlich das ganze Farbspektrum. Da der Schirm mit seinen mikroskopischen Linien grau aussah, kam das Farbschauspiel, das bei seiner Überlagerung mit dem Dia entstand, vollkommen überraschend: Scheinbar aus dem Nichts entstanden plötzlich Farben. (Der National Geographic hatte ursprünglich Finlaycolor verwendet - unter der Lupe konnte man die feinen Linien noch erkennnen.)
    Um Farbabzüge zu machen, musste man drei Positive in den Komplementärfarben - Zyan, Magenta und Gelb - herstellen und sie dann übereinander legen. Zwar gab es einen Film, Kodachrome, der das automatisch machte, doch ich fand das altmodische Verfahren viel schöner. Ich fertigte getrennte Diapositive in Zyan, Magenta und Gelb von meinen Farben-Trenn-Negativen an und schob sie dann vorsichtig übereinander, bis sie sich genau deckten. Daraufhin erblühte plötzlich und wunderbar die ganze Farbenpracht des Originals, als wäre sie in den drei Monochrombildern gewissermaßen verschlüsselt gewesen.
    Ich spielte endlos mit diesen Farbentrennungen herum und probierte aus, was geschah, wenn ich nur zwei statt drei Farben übereinander legte oder die Dias durch die falschen Filter betrachtete. Diese Experimente waren unterhaltsam und lehrreich zugleich. Ich konnte mit ihnen eine Reihe seltsamer Farbverzerrungen erzeugen, vor allem aber flößten sie mir Bewunderung ein, Bewunderung für die Eleganz und Sparsamkeit, mit der Auge und Gehirn arbeiten - und dieses Kunststück ließ sich in erstaunlichem Maße durch einen fotografischen Dreifarbenprozess nachahmen.
    Bei uns zu Hause gab es außerdem Hunderte von stereoskopischen «Ansichten» - viele auf Pappkarten, andere auf Glasplatten - verblasste, sepiafarbene Doppelfotos von Alpenlandschaften, dem Eiffelturm, München in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts (die Mutter meiner Mutter war in Gunzenhausen geboren worden, einem kleinen Ort, einige Kilometer von München entfernt), von viktorianischem Strand- und Straßenleben, Industrieszenen (ein besonders eindringliches Bild zeigte eine viktorianische Fabrik mit langen Hebeln, die von Dampfmaschinen angetrieben wurden; an dieses Bild musste ich denken, als ich in Dickens' Harten Zeiten von Coketown las). Mit großem Vergnügen schob ich diese Doppelfotos in das große Stereoskop im Salon - ein schweres Holzgerät, das auf einem eigenen Gestell stand und Messingknöpfe hatte, mit denen man den Abstand und die Brennweite der Okulare einstellen konnte. Derartige Stereoskope waren noch sehr häufig, wenn auch lange nicht mehr so allgegenwärtig wie noch um die Jahrhundertwende. Wenn diese flachen, blassen Fotos plötzlich eine neue Dimension bekamen, eine wirkliche und deutlich sichtbare Tiefe, gewannen sie eine eigene Realität, eine Wahrhaftigkeit von ganz besonderer und intimer Art. Die Stereobilder besaßen eine romantische, geheimnisvolle Qualität, denn wenn man durch die Okulare blickte, wurde man in eine Art versteinertes Privattheater versetzt - ein Theater, in dem man sich ganz allein befand. Ich

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