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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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habe ich von der Mapesbury Road gemacht, in der Morgensonne des 9. Juli 1945, am Tag meines zwölften Geburtstags. Ich wollte dokumentieren, für immer genau festhalten, was ich an diesem Morgen vor Augen hatte, als ich die Vorhänge öffnete. (Dieses Foto besitze ich noch immer. Genau genommen sind es zwei, ein Stereopaar, eine rotgrüne Anaglyphe.) Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, hat es die wirkliche Erinnerung fast verdrängt, sodass ich, wenn ich jetzt die Augen schließe und mir die Mapesbury Road meiner Kindheit zu vergegenwärtigen versuche, nur die Aufnahmen sehe, die ich gemacht habe.
    Diesen Dokumentationsdrang hat bei mir zum Teil der Krieg verstärkt, überall wurden Dinge von scheinbar ewiger Dauer vernichtet oder entfernt. Zum Beispiel die schmiedeeisernen Gitter, die vor dem Krieg dekorativ und stabil unseren Vorgarten eingefasst hatten, sie waren weg, als ich 1943 nach Hause kam. Ich fand dies sehr beunruhigend und begann sogar, an meinem Gedächtnis zu zweifeln. Hatte es vor dem Krieg tatsächlich ein solches Gitter gegeben, oder hatte ich es in meiner Phantasie oder in einer poetischen Eingebung einfach erfunden?
    Als ich dann Fotos meines jüngeren Selbst, gegen dieses Gitter gelehnt, wiederfand, war ich sehr erleichtert, bewiesen sie doch, dass es dieses Gitter tatsächlich gegeben hatte. Oder die riesige Uhr in Cricklewood, an die ich mich so genau erinnerte oder zumindest zu erinnern meinte, sechs Meter hoch, mit einem goldenen Zifferblatt in der Chichele Road - auch sie gab es nicht mehr im Jahr 1943. In Willesden Green stand eine ähnliche Uhr, und ich nahm an, ich hätte sie irgendwie in meiner Vorstellung verdoppelt, hätte Cricklewood, mein Viertel, mit einem imaginären Doppelgänger ausgestattet. Auch hier bedeutete es Jahre später eine große Erleichterung für mich, ein Foto dieser Uhr zu erblicken, mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass ich sie nicht erfunden hatte (beides, das Eisengitter wie die Uhr, waren im Zuge der Kriegsanstrengungen entfernt worden, um den unersättlichen Eisenhunger des Landes zu stillen).
    Ähnlich verhielt es sich mit dem verschwundenen Willesden-Hippodrom - wenn es denn jemals existiert hatte. Ich traute mich nicht, danach zu fragen, denn ich glaubte, die Leute würden sagen: «Willesden-Hippodrom, na so was! Was dem Jungen nur einfallt? Als hätte es jemals ein Hippodrom in Willesden gegeben!» Erst als ich ein altes Foto sah, schwanden meine Zweifel. Nun glaubte ich daran, dass es ein solches Hippodrom gegeben hatte, obwohl es während des Krieges weggebombt worden war.
    Ich las 1984 , als es 1949 erschien, und fand den Bericht über das «Erinnerungsloch» besonders eindrucksvoll und erschreckend, denn er deckte sich mit meinen eigenen Zweifeln an meinem Erinnerungsvermögen. Ich glaube, diese Lektüre führte dazu, dass ich fortan die Tagebucheintragungen und das Fotografieren intensiver betrieb, da ich ein verstärktes Bedürfnis empfand, auf konkrete Zeugnisse der Vergangenheit zurückgreifen zu können. Das äußerte sich noch in vielen anderen Formen - als Interesse an antiquarischen Büchern und alten Dingen jeder Art, an der Genealogie, der Archäologie und vor allem der Paläontologie. Als Kind hatte ich von Tante Len einiges über Fossilien erfahren, doch jetzt waren sie für mich zu Garanten der Wirklichkeit geworden.
    Aus dem gleichen Grund liebte ich alte Fotos von unserem Stadtviertel und von London. Ich hatte das Gefühl, dass sie mein Gedächtnis und meine Identität erweiterten, mich verorteten, in Raum und Zeit verankerten, als einen englischen Jungen, der in den dreißiger Jahren zur Welt gekommen war, in ein London hineingeboren, das jenem glich, in dem schon meine Eltern, meine Onkel und Tanten ihre Kindheit verbracht hatten, ein London, das Wells, Chesterton, Dickens oder Conan Doyle sofort wiedererkannt hätten. Ich saß über den alten Fotos, die meine nähere Umgebung, meine Wurzeln und meine Familien zeigten, und versuchte an ihnen dingfest zu machen, woher ich kam und wer ich war.
    Wenn die Fotografie eine Metapher für Wahrnehmung, Gedächtnis und Identität war, so war sie zugleich ein Modell, ein Mikrokosmos angewandter Wissenschaft - einer besonders interessanten Wissenschaft dazu, denn in ihr vereinigten sich Chemie, Optik und Wahrnehmung zu einer einzigen unauflöslichen Einheit. Ein Bild aufzunehmen und es zum Entwickeln zu schicken, war natürlich aufregend, aber doch nur ein begrenztes Vergnügen.

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