Onkel Wolfram - Erinnerungen
großen Tabelle vereinigt sah. Am folgenden Morgen soll er diesen Traum dann zu Papier gebracht haben. [43]
Logik und Muster in Mendelejews Tabelle waren so klar, dass bestimmte Anomalien sofort ins Auge fielen. Bestimmte Elemente schienen an der falschen Stelle zu stehen, während andere Stellen keine Elemente enthielten. Mendelejew konnte aus der Fülle seines chemischen Wissens schöpfen und wies einem halben Dutzend Elementen ungeachtet ihrer allgemein anerkannten Valenzen und Atomgewichte einen neuen Platz zu. Dabei bewies er eine solche Kühnheit, dass einige seiner Zeitgenossen schockiert waren. (Julius Lothar Meyer beispielsweise hielt es für grotesk, Atomgewichte zu verändern, nur weil sie nicht «passten».)
Von höchstem Selbstbewusstsein zeugte Mendelejews Entschluss, mehrere Plätze in seiner Tabelle für «noch unbekannte» Elemente zu reservieren. Er behauptete, wenn man die Eigenschaften der Elemente oben und unten (und in gewissem Umfange auch die derjenigen zu beiden Seiten) extrapoliere, könne man die Eigenschaften dieser unbekannten Elemente zuverlässig vorhersagen. Genau dies tat er in seiner Tabelle aus dem Jahr 1871, wo er in allen Einzelheiten ein neues Element («Eka-Aluminium») vorhersagte, das in Gruppe III unter Aluminium gehöre. Vier Jahre später wurde genau solch ein Element von dem französischen Chemiker Lecoq de Boisbaudran entdeckt und (entweder aus patriotischen Gründen oder in versteckter Anspielung auf den eigenen Namen - gallus, le coq , «Hahn») Gallium genannt.
Mendelejews Vorhersage war verblüffend genau. Er prognostizierte ein Atomgewicht von 68 (Lecoq: 69,9), ein spezifisches Gewicht von 5,9 (Lecoq: 5,94) und traf noch bei einer Vielzahl der anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften des Galliums ins Schwarze - seiner Schmelzbarkeit, seinen Oxiden, seinen Salzen, seiner Wertigkeit. Anfänglich gab es einige Unterschiede zwischen Lecoqs Beobachtungen und Mendelejews Vorhersagen, aber sie alle klärten sich rasch zu Mendelejews Gunsten. Es hieß, Mendelejew habe eine klarere Vorstellung von den Eigenschaften des Galliums - eines Elements, das er nie gesehen hatte - als derjenige, der es tatsächlich entdeckt hatte.
Plötzlich galt Mendelejew nicht mehr als Phantast oder Träumer, sondern als jemand, der ein Grundgesetz der Natur entdeckt hatte, während das Periodensystem von einem hübschen, aber unbewiesenen Entwurf zu einem unverzichtbaren Leitfaden avancierte, mit dessen Hilfe sich enorme Mengen bislang unzusammenhängender chemischer Informationen koordinieren ließen. Auch eine Fülle künftiger Forschungsfelder ergaben sich daraus, unter anderem die systematische Suche nach «fehlenden» Elementen. «Vor der Veröffentlichung dieses Gesetzes», sollte Mendelejew fast zwanzig Jahre später sagen, «waren chemische Elemente rein fragmentarische, zufallige Gegebenheiten der Natur; es gab keinen besonderen Grund, die Entdeckung neuer Elemente zu erwarten.»
Mit Hilfe von Mendelejews Periodensystem konnte man jetzt nicht nur deren Entdeckung erwarten, sondern sogar deren Eigenschaften vorhersagen. Mendelejew machte noch zwei weitere ebenso detaillierte Vorhersagen, die sich einige Jahre später mit der Entdeckung von Scandium und Germanium bestätigten. [44] Wie beim Gallium gründete er seine Vorhersagen hier auf die Basis von Analogie und Linearität, wobei er von der Annahme ausging, die physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser unbekannten Elemente und ihre Atomgewichte würden zwischen denen der benachbarten Elemente in ihren senkrechten Gruppen liegen. [45] Merkwürdigerweise hat Mendelejew den Schlussstein der ganzen Tafel nicht vorhergesehen, vielleicht nicht vorhersehen können, denn es handelte sich nicht um ein vereinzeltes fehlendes Element, sondern um eine ganze Familie oder Gruppe. Als man Argon im Jahr 1894 entdeckte - ein Element, das nirgendwo in die Tafel passte -, bestritt Mendelejew zunächst, dass es sich um ein Element handelte, und dachte, es sei eine schwerere Form des Stickstoffs (N 3 , analog zum Ozon, O 3 ) . Aber dann wurde klar, dass es doch einen freien Platz für ein solches Element gab: zwischen Chlor und Kalium. Wie sich herausstellte, nicht nur für ein Element, sondern für eine ganze Gruppe, die in jeder Periode zwischen den Halogenen und den Alkalimetallen lag. Das wurde von Lecoq erkannt, der später die fünf anderen noch zu entdeckenden Gase vorhersagte - die dann auch kurz hintereinander gefunden
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