Onkel Wolfram - Erinnerungen
wurden. Mit der Entdeckung von Helium, Neon, Krypton und Xenon war klar, dass diese Gase eine eigene periodische Gruppe bildeten, eine Gruppe, die so reaktionsträge, so bescheiden, so unauffällig war, dass sie sich der Aufmerksamkeit der Chemiker jahrhundertelang entzogen hatte. [46] Alle Edelgase schienen gleichermaßen unfähig zu sein, Verbindungen einzugehen. Offenbar hatten sie eine Valenz von null. [47] Die Tafel des Periodensystems war unglaublich schön, das Schönste, was ich je zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte nie genau analysieren, was ich hier unter Schönheit verstand - Einfachheit? Schlüssigkeit? Rhythmus? Zwangsläufigkeit? Vielleicht war es die Symmetrie, der übergreifende Zusammenhang, der jedem Element seinen Platz zuwies, ohne Lücken, ohne Ausnahme, dergestalt, dass er alles andere bedingte.
Zu meiner Bestürzung bezeichnete J. W. Mellor, ein außerordentlich gelehrter Chemiker, in dessen umfangreicher Abhandlung über anorganische Chemie ich herumlas, das Periodensystem als «oberflächlich» und «illusorisch», nicht richtiger, nicht grundlegender als jede andere Adhoc-Klassifikation. Das versetzte mich kurzzeitig in Panik und weckte den brennenden Wunsch herauszufinden, ob für die Idee der Periodizität noch etwas anderes sprach als chemischer Charakter und Wertigkeit.
Die Klärung dieser Frage führte mich fort aus meinem Labor, führte mich zu einem neuen Buch, das augenblicklich meine Bibel wurde, zum CRC Handbook of Physics and Chemistry , einem dicken, fast würfelförmigen Werk von nahezu dreitausend Seiten, das Tabellen zu jeder denkbaren physikalischen und chemischen Eigenschaft enthielt, von denen ich viele geradezu obsessiv auswendig lernte.
Ich lernte die Dichten, die Schmelzpunkte, Siedepunkte, Brechungskoeffizienten, Löslichkeitskoeffizienten und Kristallformen aller Elemente und Hunderter ihrer Verbindungen kennen. Fasziniert begann ich, sie graphisch darzustellen, die Atomgewichte in Beziehung zu jeder ihrer physikalischen Eigenschaften abzubilden. Je genauer ich diese Eigenschaften kennen lernte, desto begeisterter und hingerissener war ich, denn fast alles, was ich betrachtete, offenbarte Periodizität: nicht nur Dichte, Schmelzpunkt, Siedepunkt, sondern auch die elektrische und die Wärmeleitfähigkeit, die Kristallform, Härte, Volumenveränderung durch Schmelzen, die Ausdehnung bei Wärme, die Elektrodenpotenziale und so weiter und so fort. Es ging also nicht nur um die Valenz, sondern auch um die physikalischen Eigenschaften. In meinen Augen trugen diese Entdeckungen erheblich zur Macht, zur Universalität des Periodensystems bei.
Es gab Ausnahmen von den Tendenzen, die das Periodensystem zeigte - zum Teil sogar erhebliche Anomalien. Warum hatte Mangan beispielsweise eine so miserable elektrische Leitfähigkeit, während die Elemente zu beiden Seiten recht gute Leiter waren? Warum blieb starker Magnetismus auf die Eisenmetalle beschränkt? Und doch war ich irgendwie davon überzeugt, dass diese Ausnahmen auf das Wirken zusätzlicher Mechanismen zurückgingen und keinesfalls das Gesamtsystem beeinträchtigten. [48] Mit Hilfe des Periodensystems versuchte ich mich selbst in Prognosen. So versuchte ich, die Eigenschaften mehrerer noch unbekannter Elemente vorherzusagen, wie Mendelejew es für Gallium und andere getan hatte. Auf der Museumstafel hatte ich gesehen, dass sie vier Lücken enthielt. Das letzte der Alkalimetalle, Element 87, fehlte noch, genauso wie das letzte Halogen, Element 85. Element 43, unter Mangan, war nicht vorhanden, obwohl an dieser Stelle «?Masurium» stand, ohne Atomgewicht. [49] Schließlich fehlte noch eine seltene Erde, Element 61.
Die Eigenschaften des unbekannten Alkalimetalls ließen sich leicht vorhersagen, denn die Alkalimetalle sind sich alle sehr ähnlich, sodass ich nur die Merkmale der anderen Elemente in der Gruppe extrapolieren musste. 87 musste das schwerste, niedrigstschmelzende, reaktivste Element der Gruppe sein, bei Raumtemperatur flüssig und wie Zäsium golden schimmern, vielleicht auch lachsrosa, wie geschmolzenes Kupfer. Es würde noch elektropositiver als Zäsium sein und einen noch stärkeren lichtelektrischen Effekt haben. Wie andere Alkalimetalle würde es Flammen kräftig färben - wahrscheinlich bläulich, weil die Flammenfärbung von Lithium bis Zäsium in diese Richtung tendierte.
Ebenso leicht konnte ich die Eigenschaften des unbekannten Halogens prognostizieren, denn auch die Halogene glichen sich
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