Onkel Wolfram - Erinnerungen
Untersuchung könnte unerwartetes Licht auf alle Elemente und ihre Periodizität werfen.
Die seltenen Erden, schrieb William Crookes, verstören uns in unserer Forschung, strafen unsere Spekulationen Lügen und verfolgen uns bis in unsere Träume. Sie breiten sich wie ein unbekanntes Meer vor uns aus, führen uns in die Irre, umgeben sich mit Geheimnissen, verheißen seltsame Enthüllungen und Möglichkeiten.
Wenn die seltenen Erden die anderen Chemiker verblüfften, hinters Licht führten und verfolgten, so trieben sie Mendelejew fast in den Wahnsinn, als er versuchte, ihnen einen Platz in seinem Periodensystem zuzuweisen. Als er 1869 seine erste Tabelle konstruierte, waren nur fünf seltene Erden bekannt, doch dann wurden in den folgenden Jahrzehnten immer mehr entdeckt, und mit jeder Entdeckung wurde das Problem größer, weil sie (wie es schien) allesamt mit ihren aufeinander folgenden Atomgewichten an eine einzige Position in der Tabelle zu gehören schienen, gewissermaßen eingequetscht zwischen zwei aneinander grenzende Elemente in der Periode 6. Auch andere Forscher bemühten sich um die Einordnung dieser so täuschend ähnlichen Elemente, zusätzlich verunsichert durch die Ungewissheit, wie viele seltene Erden letztlich entdeckt würden.
Viele Chemiker waren Ende des 19. Jahrhunderts geneigt, sowohl die Übergangselemente als auch die seltenen Erden in getrennte «Blöcke» einzuordnen, denn man brauchte ein Periodensystem mit mehr Platz, mehr Dimensionen, um diese «Extraelemente» aufzunehmen, die das grundlegende Schema der acht Gruppen aufzubrechen schienen. Ich versuchte, Periodensysteme verschiedener Form zu entwerfen, in die diese Blöcke hineinpassten, wobei ich spiralförmige und dreidimensionale ausprobierte. Viele andere hatten, wie ich später entdeckte, das Gleiche getan: Mehr als hundert Versionen des Periodensystems erschienen zu Mendelejews Lebzeiten.
Alle Tabellen, die ich entwarf, alle Tabellen, die ich sah, endeten in Ungewissheit, endeten mit einem Fragezeichen, das sich auf das «letzte» Element, das Uran, bezog. Es interessierte mich außerordentlich und mit ihm seine Periode, die Periode 7, die mit einem noch unbekannten Alkalimetall, Element 87, begann, aber nur bis Uran, Element 92, reichte. Warum, so fragte ich mich, sollte hier Schluss sein, nach lediglich sechs Elementen? Gab es nicht vielleicht noch mehr Elemente, jenseits des Urans?
Das Uran selbst war von Mendelejew unter Wolfram gestellt worden, das schwerste Übergangselement der Gruppe VI, weil es chemisch große Ähnlichkeit mit Wolfram hatte. (Wolfram bildete ein flüchtiges Hexafluorid, ein sehr dichtes Gas, genau wie Uran - und diese Verbindung UF 6 wurde im Krieg verwendet, um die Uranisotopen zu isolieren.) Uran erschien wie ein Übergangsmetall, erschien wie Eka-Wolfram - und dennoch befriedigte mich diese Lösung nicht recht. Daher beschloss ich, mich etwas eingehender damit zu beschäftigen und die Dichten und Schmelzpunkte aller Übergangsmetalle zu untersuchen. Schon bald entdeckte ich eine Anomalie; während die Dichte der Metalle in den Perioden 4, 5 und 6 ständig anstieg, ging sie bei den Elementen in Periode 7 überraschenderweise zurück. So war Uran weniger dicht als Wolfram, obwohl man bei ihm eigentlich eine größere Dichte erwartet hätte (bei Thorium verhielt es sich ähnlich, es war weniger dicht als Hafnium und nicht etwa dichter, was man erwartet hätte). Das gleiche Bild bei den Schmelzpunkten: Sie erreichten einen Höhepunkt in Periode 6 und gingen dann plötzlich zurück.
Ich war ganz aus dem Häuschen, denn ich hatte das Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. War es trotz aller Ähnlichkeiten zwischen Uran und Wolfram denkbar, dass Uran in Wirklichkeit gar nicht der gleichen Gruppe angehörte, dass es noch nicht einmal ein Übergangsmetall war? Und galt dies möglicherweise auch für die anderen Elemente der Periode 7, Thorium und Protactinium sowie die (imaginären) Elemente jenseits des Urans? Konnte es sein, dass diese Elemente stattdessen der Anfang einer zweiten Reihe seltener Erden waren, der ersten in Periode 6 exakt analog? In diesem Fall wäre Eka-Wolfram nicht Uran, sondern ein noch unentdecktes Element, das erst erkennbar sein würde, wenn die zweite Reihe der seltenen Erden vollständig vorlag. Im Jahr 1945 war dies noch unvorstellbar, allenfalls Stoff für Science-Fiction-Romane.
Hoch erfreut vernahm ich bald nach dem Krieg, dass ich mit meiner Vermutung richtig gelegen
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