Online Wartet Der Tod
Jess?«
»Nichts. Kann ich mich nicht ab und zu einfach mal auf einen Drink und einen Schwatz mit meiner Schwester treffen?«
Nicht nur, dass er leicht zu durchschauen war, Jess enttäuschte sie auch immer wieder.
»Wir schwatzen, wenn du mir gesagt hast, was los ist.«
»Gibt es den Zweitschlüssel zu deiner Wohnung noch?«
Ellie seufzte und schüttelte den Kopf. »Was ist denn mit deiner Wohnung?«
Das Possessivpronomen hatte sie hier etwas frei gebraucht. Außer einigen Gitarren, einem Paar Arbeitsstiefel und einer Sporttasche voll Klamotten gehörte Jess Hatcher wenig auf dieser Welt. Dennoch hatte er ihr das letzte Mal erzählt, er habe jetzt in Williamsburg einen Platz zum Pennen.
»Mein Kumpel musste sich jemanden suchen, der ein bisschen Miete zahlt.«
»Sag bloß. Und der Job?«
Wider besseres Wissen hatte Ellie ihm ein weiteres Mal zu einer Anstellung verholfen, diesmal als Koch in einem Diner und Schnellrestaurant im Garment District, nicht weit vom Polizeirevier Midtown South, wo sie früher auf Streife gewesen war. Der siebzigjährige Schwede, dem der Laden gehörte, hatte immer eine Schwäche für Ellie gehabt. Offenbar hatte diese Schwäche nicht ausgereicht, um auf jemanden wie Jess übertragen zu werden.
»Der alte Mann hat mich ein bisschen zu oft die Frühschicht machen lassen. Es ist hart, um sechs Speck zu braten, wenn du bis vier Uhr Rock ’n’ Roll gespielt hast.« Er legte ein kleines Luftgitarrensolo hin.
»Es wäre nicht ganz so hart gewesen, wenn du deinen Gig gespielt, gearbeitet und dich dann schlafen gelegt hättest.« Ellie fischte den Zweitschlüssel aus ihrer Handtasche. Sie steckte ihn immer ein, wenn Jess sich mit ihr treffen wollte.
»Jetzt ein Schwätzchen?« Jess steckte den Schlüssel in die Hosentasche und grinste. Zu diesem jungenhaften Lächeln blickte sie auf, seit sie denken konnte. Es war ein scheues Streifenhörnchen-Lächeln, das so gar nicht zu dem unrasierten, von ersten Falten gezeichneten Gesicht passte.
»Ich habe einen Mordfall gekriegt.«
Das schüchterne Lächeln verschwand. »Ich dachte, du wärst glücklich mit deinen Feld-Wald-und-Wiesen-Delikten.«
Diesen Satz sagte sie immer, wenn ihre Mutter und Jess bezweifelten, dass sie den Härten des Polizistenlebens psychisch gewachsen war. Aus vollkommen anderen Gründen hatte sie es auch ihrem Exfreund Bill gegenüber so dargestellt, um seine vollkommen andersgearteten Bedenken auszuräumen. Bill hatte immer gefragt, wie lange sie ihren Job im Griff haben würde. Ihre Familie fragte, wie lange es dauern würde, bis der Job sie im Griff hatte.
»Das war ich auch. Das bin ich. Aber so ein Mordfall – das ist schon was anderes. Gestern war ich in der Wohnung einer Frau, hab ihre Mails gelesen, an ihren Kleidern geschnuppert, ihren Medizinschrank durchsucht – und wusste die ganze Zeit, dass der, der sie umgebracht hat, da draußen herumläuft. Und dann waren ihre Eltern auf dem Revier, um ihre Katze abzuholen.«
»Du hast ihre Eltern kennengelernt?«
Ellie überging die Frage. »Genau ein Jahr davor ist schon eine Frau gestorben. Da gibt es ein paar Übereinstimmungen.«
»Was, ein Serientäter ?«
»Reg dich nicht auf. Die Sache ist wichtig, Jess. Da läuft ein Typ frei herum und guckt sich sein nächstes Opfer aus.«
»Das heißt nicht, dass ausgerechnet du ihn aufhalten musst. Willst du dich wirklich auf so was einlassen?«
Ellie wusste, worauf er hinauswollte. »Ich werde es anders machen. Man kann ein guter Polizist sein, ohne sich von allen anderen Lebensbereichen abzukoppeln.«
»Und was genau läuft zurzeit in deinem Leben, El? Es ist ein Jahr her, dass du Bill in die Wüste geschickt hast, und es scheint nichts anderes in Sicht.«
»Herzlichen Dank!«
»Du verstehst mich schon.« Nachdem sie bei Bill ausgezogen war, hatte Jess ihr zwei Monate Erholung zugebilligt, aber seitdem versuchte er unermüdlich, sie wieder in die Welt der Dates zu schubsen. Sie wussten beide, wie lächerlich seine Bemühungen waren. Die meisten seiner Freunde hatten einen Hintergrund, der ihr ganz schnell eine interne Untersuchung eingetragen hätte. Und es war völlig klar, dass Jess außer seinen Bandkollegen niemanden zu bieten hatte.
»Im Übrigen: Was ist, wenn du den Kerl tatsächlich findest? Was passiert, wenn ein Typ, der Frauenmord als Sport betreibt, ein Auge auf dich wirft? Hast du dir das schon mal überlegt?«
Das hatte sie nicht, und sie wollte es auch gar nicht. Zu oft hatte sie sich den
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