Online Wartet Der Tod
Tod ihres Vaters ausgemalt. Hatte ihn vor sich gesehen, wie er für den vorgetäuschten Selbstmord mit vorgehaltener Waffe hinter das Steuer seines Wagens gezwungen wurde. Hatte er gewusst, dass er sterben würde? Hatte er während dieser letzten Augenblicke an seine Familie gedacht? Sich selbst wollte sie sich nicht so vorstellen – unterlegen, resigniert, völlig am Ende.
Sie nippte schweigend an ihrem Drink, und Jess gab Ruhe. Seit Ellie ihrem Bruder fast zehn Jahre zuvor nach New York gefolgt war, hatten sie gelernt, einander einfach zu akzeptieren.
»Was macht Mom?«, fragte er schließlich.
»Sie fragt sich, wie es dir geht, wie immer.«
»Und der Prozess gegen die Stadt?«
»Gequirlte Kacke, wie immer. Der Anwalt kommt nicht weiter, und Summer und das Police Department beharren darauf, dass es nur acht Opfer gab.«
»Im Police Department von Wichita sitzen genau die Deppen, die damals behauptet haben, er hätte nach sechs Morden aufgehört. Jetzt reden sie von acht, weil er zwei weitere gestanden hat. Davon wüssten sie nichts, wenn er es ihnen nicht gestanden hätte, dieser arrogante Arsch. Warum sind sie sich so sicher, dass er keine Spielchen mit ihnen spielt? Ich wette, er kommt davon und weiß, dass noch ein Mord auf sein Konto geht, von dem sie nichts ahnen. An einem Cop noch dazu.«
»Bei mir rennst du offene Türen ein, Jess. Ich hab dir nur erzählt, was ich weiß.«
Nachdem die Polizei von Wichita William Summer, den Mann, der bis dahin nur als College-Hill-Würger bekannt gewesen war, endlich festgenommen hatte, war Ellie sofort zu einem weiteren Anwalt gegangen und hatte ihn beauftragt, ihre Mutter in einer weiteren Klage gegen die Stadt zu vertreten, um ihr die Pension ihres Vaters zu sichern. Anderthalb Jahre lang hatte der Anwalt darum gekämpft, das Beweismaterial, das gegen Summer zusammengetragen worden war, einsehen zu dürfen. Außerdem hatte er darum gekämpft, Summer selbst befragen zu können. Aber solange sie keinen Beweis fanden, der Summer mit dem Tod ihres Vaters in Verbindung brachte, galt Jerry Hatcher als Selbstmörder, und die anderslautenden Vermutungen, die seine Familie seit anderthalb Jahrzehnten immer wieder äußerte, blieben genau das: Vermutungen. Ellie hasste das Wort Schlussstrich ; aber sie hoffte, dass eine Antwort zum Tod ihres Vaters ihre Mutter aus der Hölle ihrer Trauer erlöste.
»Ich geh nach Hause. Willst du mitkommen und Mom anrufen?«
»Im ›Charleston‹ in Williamsburg gibt es heute eine Open-mic-Session.«
»Und ein zehnminütiges Telefonat mit Mom hält dich davon ab, dort zu spielen?«
»Nein, es zieht mich runter und verdirbt mir den Abend. Ich passe.«
Insgeheim hätte Ellie das auch gern getan. Aber während Jess machte, was er wollte, tat Ellie das, wovon sie meinte, dass sie es tun sollte. So war es in der Familie Hatcher immer gewesen. Sie leerte ihr Glas und ließ so viel Geld bei Josie zurück, dass ihr Bruder noch ein paar Bourbon guthatte.
10
Jess hatte behauptet, in ihrem Leben spiele sich außer dem Job nichts ab. Das war unfair. Ihre Arbeit machte einen Teil ihres Lebens aus. Ebenso gut hätte sie sagen können, dass sich in Jess’ Leben nichts abspielte außer seiner Musik oder dass es im Leben ihrer Mutter außer den Kindern gar nichts gab. Jedermanns Leben schien leer, wenn man die wesentlichen Dinge wegstrich.
Gerade Jess wusste doch, wie wichtig die Arbeit für sie war. Eben weil sie einen Teil ihrer Identität ausmachte, lebte sie nicht mehr mit Bill zusammen. Was auch immer Jess dachte – Bill war kein schlechter Kerl. Verrückterweise hatte sie ihn bei einem Auftritt von Jess im West Village kennengelernt. Bill hatte sich auf der Stelle heftig in sie verliebt und sie fünf Monate später überredet, ihr möbliertes Zimmer aufzugeben und bei ihm einzuziehen. Er war Banker, arbeitete ungeheuer viel und legte großen Wert darauf, seine spärliche Freizeit zu genießen. Und für ihn war es – sehr schmeichelhaft – der größte Genuss, wenn Ellie da war und ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Bill ging davon aus, dass sie ihren Job sofort und bereitwillig aufgeben würde, sobald er anbot, für sie zu sorgen. Er ging davon aus, dass es das war, was alle Frauen sich wünschten, ja er beneidete die Frauen sogar darum, dass das für sie ein möglicher Lebensentwurf war.
Ellie aber hatte darauf bestanden, weiterhin zu arbeiten, obwohl er ihr täglich versicherte, das brauche sie nicht. Nach ein paar Monaten,
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