Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)

entdeckt.«
    Was’ das denn. ( Fack .)
    Albert seufzte angesichts der anstrengenden Erklärung. »Als normaler Mann hast du ein X- und ein Y-Chromosom. Einige Männer haben zwei Y-Chromosomen.« Sind dadurch im Schnitt zehn Zentimeter größer als andere. Haben größere Füße und Hände. Plumpere Zähne, Ohren, Nasenrücken. Höheren Testosteronspiegel. Stärkere Libido, aber zeitweise schwächere Potenz. Geringe Frustrationstoleranz. Sind oft zack auf Zinne. »So weit scheinen die Erkenntnisse gesichert. Gibt aber auch ’ne Menge falsche Annahmen und hartnäckig kolportierte Irrtümer: Doppelypsilonen seien zagen rappeldoof. Beziehungsweise, wie der Wissenschaftler sagt, kognitiv retardiert. Und sowieso generell kriminelle Soziopathen. Früher sprach man sogar lange Zeit vom Verbrecher-Gen, dann wieder vom Supermann-Gen, sozagen. Stark umstritten allerdings ist bis heute, ob es nicht tatsächlich den idealen Nährboden für ein späteres Hemppler-Syndrom abgibt.«
    Hemppler-Syndrom … ja. Was war das noch mal gleich?
    »Persönlichkeitsstörung. Aggressives und autoaggressives Verhalten. Die sich ritzen, sind zu neunzig Prozent Hemppler.«
    »Ritzen?«
    »Mensch, Kerl. Ja, ritzen. SVV. Selbstverletzendes Verhalten. Die schneiden sich mit Scherben, Scheren, Messern Muster ins eigene Fleisch. Ich hab mal ein 14jähriges Mädel gesehn, das hatte Daddy fucked me and I liked it in ihren Bauch geschnitzt.«
    Gott.
    »Außerdem Dissoziation, Depressionen, starke Stimmungsschwankungen, extreme Idealisierungen oder Entwertungen, Jähzorn, der ganze zagen Scheiß.« Ungewöhnliches Doppel-Ypsilon hin, Hemppler-Syndrom her – mustergültig ist jedenfalls Händchens Karriere: mißbraucht, traumatisiert, Schulabbrecher, funktionaler Analphabet, aber durchaus intelligent, Straßenkind, Drogen, Einbrüche, Körperverletzung, Erpressung, Heim, Martial Arts , Türsteher, Totschlag, Knast …
    »Herrje«, sagte Onno. Fack , dachte er.
    An diesem Punkt ungefähr mußte es gewesen sein, daß ein ihm wohlbekannter innerer Prozeß begann. Scheppernd und rasselnd, weil Kaltstart, sprang diese große, gutmütige Na-gut-dann-eben-nicht-Maschine an und lief sich für alle Fälle schon mal warm. Ein Viets war bisweilen müde, aber noch lange nicht lebensmüde. »Und jetzt checkt es hier so auf’m Kiez rum.«
    »Checkt hier so rum? Ist der aufstrebende Jungstar. Derzeit prächtigster Pimp auf dem Kiez. Germany’s next Toploddel. In Rekordzeit zur rechten Hand des Büffels avanciert. Soll ihm ungefragt ’nen großen Gefallen hinsichtlich eines Widersachers erwiesen haben, und dann gefiel er ihm auch als Freefighter, und was weiß ich. Na, man weiß ja, wie unsere Kiezoligarchen ticken. Jedenfalls hat Buv persönlich ihm den Spitznamen verliehen. Soll wörtlich gesagt haben, Tibor habe ›ein Händchen für andersdenkende Geschäftspartner‹«, referierte Albert. »Und das nächste Mal hat er dann gleich nach ›Händchen‹ gefragt. ›Laß Händchen das machen.‹ Händchen hier, Händchen da. Der Mann für die zagen Abteilung Streß.«
    Ging alles ein bißchen schnell für Onnos Geblüt. Fragen aber tat er: »Woher weißt’n das eigentlich alles, nech?«
    »Teils, wie gesagt, eigene Anschauung – war schließlich mein Klient, bis er sechzehn war. Mann, Alter, die ganze Latte. Autodiebstahl, Drogen, Einbrüche. Kiffen, Abhängen. Zappelphilipp-Syndrom. Jugendpsychiatrie, nachdem er sich zu schlimm geritzt hat. Einmal, weiß ich noch: sechsundzwanzig Anzeigen in drei Wochen – Fahren ohne Führerschein, Drogenmißbrauch, Körperverletzung, Erpressung … Geschlossenes Heim. Das wichtigste feste Strukturen, Gespräche Beiwerk. Status, Stärke, Gleichaltrige, Liebe, Leistung. Konfliktlösungsmuster: verschieben, vermeiden, vergelten. Biopsychologisches Training, Umerziehung zagen. Gewalt domestizieren, Boxen, Karate et cetera. Negative Anerkennungsbilanz aufstocken. Das ist überhaupt die wichtigste Frage für solche Jungs: Wozu gibt’s mich eigentlich? Braucht mich überhaupt jemand? Und darüber hinaus gibt’s im Vergleich zu früher heute immer mehr virtuelle Optionen, zagen, und immer weniger reale Möglichkeiten.«
    Loy zündete sich eine Pall Mall an. Statt Häuser und Kirchen.
    »Und dabei – Händchen ist da ja schon wieder old school. Heutzutage vagabundieren die Jungs ja nur noch ziellos. Ziehen los, um ›Votzen zu klatschen‹, und damit sind nicht Mädchen gemeint, sondern andere Jungs. Formerly known as