Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
sich bei den Herren um Bizzer mit Weitblick handelt, haben sie sich außer auf Bezirke und Branchen auch auf die Reorganisation eines Kiezkodex geeinigt.
Den ehernen Kodex der Goldenen St.-Pauli-Ära in den Sechzigern und Siebzigern – keine Waffen! – hat man realistischerweise gar nicht erst zu reanimieren versucht. Dafür ist die Eskalation der Brutalität in den Achtzigern durch clanartig organisierte ethnische Verbände allzu nachhaltig wirksam. Und ein Begriff wie etwa Ehre o. ä. inzwischen zu stark dehnbar. Aber man hat ein Schiedsgericht initiiert. Und darf gespannt sein, ob’s funktioniert.
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Onno fröstelte. Am Rücken. Immer klarer wurde ihm, daß er bei diesem Job nicht einfach ggf. den Sanitas SHK 29 an- und die Unwägbarkeiten mit der Zappbazooka ausknipsen konnte. Hatte er sich vorhin im Auto tatsächlich die Nase zugehalten und »Dreihundert Meter, mittlere Fahrspur« geschnarrt wie ein Elfjähriger? Nicht, daß er sich allzu päpstlich schämen täte – kicherte nur innerlich (»’ch, ’ch, ’ch«) –, aber trotzdem. Mußte man derart kindisch werden auf seine alten Tage? Ja, verdammt noch mal, er wurde alt, und ja: wenn er noch älter werden wollte, dann hatte er auf dem Kiez nichts mehr verloren.
Sicher, als Hamburger Jung war Onno zagen stolz auf St. Pauli. Immer noch sympathisierte er mit dem Kiez. Mit dessen subversiver, antibürgerlicher Metaphorik. Mit Phänomenen wie dem FC St. Pauli, dem sog. Freudenhaus der Liga. (Wiewohl Onno sein Lebtag keinen Einwurf von einem Elfmeter unterscheiden konnte – weswegen seine angelegentlichen Simpeleien von echten Fans wie Ulli EP Vredemann bestenfalls geduldet wurden. Aber er liebte Geschichten wie die vom angereisten Bayernblock, der die Paulianer am Millerntor mit skandierten Schmähungen wie »Ar-beits-lo-se! Ar-beits-lo-se!« bedachte – und zur Antwort bekam: »Steu-er-zah-ler! Steu-er-zah-ler!«) Ja, er hatte sich selbst viel rumgetrieben auf der Meile, und nicht erst in den Achtzigern. Seit dieser Zwergalbino ihn mit dem Lila-Pudel-Tatau gezeichnet, weil er diese Wette verloren hatte, zog ihn die Meile immer wieder an wie einen Quartalsnarkotiker.
Mit von der Partie war schon damals oft Raimund gewesen. Beide hatten sie, lange bereits, bevor sie volljährig wurden, eine gewisse Lektion gelernt.
Als sechzehn-, siebzehnjährige Pubertätsgenossen hatten sie so grad eben noch Exemplare der letzten historisch amtlichen Auflage von Hippiescheinen ergattert. De facto nichts als Bürohengste, flirteten sie mit Gammler- und Pennertum. (Nicht, daß sie in der Lage gewesen wären, ihren Idolen nachzueifern. Lehrjahre sind keine Berberjahre.) Und auch, wenngleich halbherziger, mit Halbwelt und Milieu. Doch sie tranken Bier, lasen Bukowski und hatten eh ’ne Meise. Hin und wieder gingen sie, beginnend zumeist mit dem Schwänzen der Berufsschule, auf spontane Exkurse. Forschungsziel: die sog. Wirklichkeit. Einmal landeten sie in einer der berüchtigtsten Spelunken. Sie lag am Hamburger Berg und hieß Zum goldenen Handschuh.
Der natürlich alles andere war als golden. Qualmwetter, Bierpfützen, Schlagerlärm. Links die Zerette, rechts die Astra-Knolle, quatschten Jung Onno und Jung Raimund mit den Süffeln dort, der Teufel weiß noch, worüber. Woran Onno sich bis heute erinnerte, war eine Frau, die zwei Jahrzehnte älter gewesen sein mochte als er und vier Jahrzehnte älter aussah. Ein, zwei Stunden betrunkener als er, wedelte sie mit der Floskel als’ch noch jung’n’schön war , und aufgrund einer Eingebung sagte Onno: »Sind Sie doch immer noch, nech.« Wäre sie nicht blau gewesen, sie wäre wohl errötet. Anstatt Onno eine reinzuhauen, unterdrückte sie damenhafte Verlegenheit. Wahrhaftig, ihre Miene sprach Bände.
Bzw. Hefte. Lore-Hefte. Das war die Lektion gewesen, die sie gelernt hatten: Sie waren weder Angehörige noch Forscher, sondern Touristen, und auf ihren Expeditionen in die sog. Wirklichkeit fanden sie was? Lore-Hefte.
Ein Jahr später wurde der Hurenmörder Fritz Honka verhaftet, der nicht nur das letzte seiner Opfer wo gefunden hatte? Im Goldenen Handschuh , und nie wurde Onno die Phantasie los, daß er an jenem bierschwülen Tag womöglich mit beiden angestoßen hatte.
Gut, die Jahre, von denen kaum ein Monat verging, den wir nicht auf dem Kiez ausklingen ließen – sie hatten wirklich Spaß gemacht. Jetzt aber war es genug. Onno brauchte keine Aufregung mehr. Jedenfalls nicht unbewaffnet. Nicht ohne
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