Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Michelin-Männchen-Großfamilie gemächlich ihr Zeug aus den Fahrzeugen wuchtet. Die kritischen Blicke stören uns nicht, sie hätten ja auch mit anpacken können. Wir haben bessere Manieren und bieten an, ihnen beim Verladen zu helfen. »Geht schon«, faucht der Gruppenleiter.
Bald wird das Knattern der Bootsmotoren immer leiser. Endlich allein. Wir inspizieren die Ebene, die Mücken inspizieren uns. Dann bringen wir die gelben Tonnen und unsere schweren Taschen ein paar Hundert Meter weiter ins Inland. Meine Eltern haben das schwerste Gepäck, was haben die bloß alles eingepackt?
Als das Camp steht, holt Patrick neun dreibeinige Klapphocker aus einer der Tonnen. »Erzählt das keinem, sonst lachen mich die echten Outdoorleute aus«, sagt er grinsend mit einem Seitenblick Richtung Fjord.
Dann erklärt er die Toilettenregeln: Die bei Camp-Aufbau festgelegte Kloregion aufsuchen, mit der Schaufel ein Loch graben, gebrauchtes Klopapier verbrennen. Wenn die Schaufel nicht an der üblichen Stelle im Boden steckt, heißt das: besetzt.
Beim Abendessen sitzen wir im Esszimmerzelt im Kreis auf unseren Hockern und lassen uns Corned Beef, Kartoffelbrei und Kaiserschmarren schmecken. Wir beschließen, unseren Reiseleiter ab jetzt Jamie zu nennen, denn was er immer auf die Teller zaubert, ist wirklich phänomenal.
Beim Dessert erzählt Patrick von Eisbären. Er hat ein Schrotgewehr dabei, falls wir unerwarteten Besuch bekommen. »Wenn einer kommt, müsst ihr euch in der Gruppe zusammenstellen und möglichst groß machen. Rennt bloß nicht weg, das fördert den Jagdinstinkt!« Die Wahrscheinlichkeit sei zwar nicht besonders groß, dass sich ein Tier so weit in den Süden verirrt, aber es kann schon mal vorkommen. »Wahrscheinlich würde sich ein Eisbär nachts nähern und erst einmal das Lager umkreisen.« Na dann, süße Träume.
Wir müssen morgen früh aufstehen, weil wir viel vorhaben, also gehen wir schon um zehn in die Schlafzelte. Direkt nebenan erhebt sich im Norden eine steile graue Felsflanke: Wir haben unser Lager am Fuß von Ficks Bjerg aufgeschlagen.
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Die Welt vor 100 Jahren
Den Menschen in Westeuropa ging es gut im Jahr 1912. Seit Jahrzehnten herrschte Frieden, Kriege tobten nur weit entfernt, auf dem Balkan oder in Afrika, es war eine Zeit der Sicherheit und des Fortschritts. Der Alltag war voller Annehmlichkeiten, die vorherige Generationen nicht kannten. Man konnte sich mit dem Fernsprecher zum Kinobesuch verabreden und hörte Opernarien von Enrico Caruso auf dem Grammofon. Elektrische Bügeleisen und Maggi-Suppenwürze vereinfachten den Haushalt. Das Kopfschmerz- und Rheumamittel Aspirin wurde zum Welterfolg, optimistische Mediziner prophezeiten schon das absehbare Ende aller Krankheiten.
Zwischen 1890 und 1910 wurden weltweit 400 000 Kilometer Schienen verlegt, 9000 allein auf der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn. Riesige Dampfschiffe überquerten die Weltmeere, mutige Forscher hoben mit motorisierten Flugzeugen oder Luftschiffen ab, in den USA ging der Ford T in Serie und wurde hunderttausendfach verkauft.
Forscher forschten, Erfinder erfanden, Denker dachten, ihre Erkenntnisse katapultierten Wissenschaft und Technik in ein neues Zeitalter: Während der ersten 25 Lebensjahre von Roderich Fick entwickelte Sigmund Freud die Psychoanalyse, die Curies entdeckten die Radioaktivität, Einstein die Relativitätstheorie und Röntgen die Röntgenstrahlen. Er bekam dafür 1901
den ersten Nobelpreis für Physik überreicht. Wilhelm der II. regierte das Deutsche Kaiserreich, Königin Victoria herrschte über Großbritannien, Franz Joseph I. über Österreich-Ungarn.
Immer mehr Menschen zog es in die Städte, die Arbeit boten und sich rasant veränderten. Der Eiffelturm thronte über Paris, die Tower Bridge schmückte London, die Hochbahn ratterte durch Hamburg.
Wenn Angehörige der Mittelschicht genug vom Trubel der Stadt hatten, reisten sie zur Sommerfrische an die Nordsee oder in die Luftkurorte der Alpen. In der Oberschicht waren Reisen in den Orient der letzte Schrei, mit dem Dampfer zu den Pyramiden in Ägypten, im Orient-Express nach Istanbul. Die Literatur der Zeit spiegelte das Interesse an exotischen und fremden Welten wider. Jules Verne feierte weltweite Erfolge, Karl May schrieb »Winnetou der Rote Gentleman«, Rudyard Kipling »Das Dschungelbuch«, Jack London »Ruf der Wildnis«. Wer von der Ferne träumte, war nicht nur auf Bücher angewiesen. Dank Filmkameras war es erstmals
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