Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
den Rumpf des Luxusliners »Titanic« auf. Das tödliche Hindernis war am Gletscher Jakobshavn Isbræ entstanden, dort, wo vier Schweizer zu ihrer Inlandeis-Expedition aufbrechen wollten. Der Untergang belehrte alle, die geglaubt hatten, der Fortschritt könne es längst mit jeder Naturgewalt aufnehmen, eines Besseren.
Als Frederick Cook nach seiner angeblichen Nordpol-Eroberung im August 1909 mit der »Hans Egede« von Grönland zurückreiste, befand sich an Bord auch ein junger Geophysiker, der an der Westküste mit Wetterballons atmosphärische Strömungen gemessen hatte. Mit Begeisterung lauschte Alfred de Quervain den Erzählungen des Hochstaplers. Doch schon auf dem Schiff verstrickte sich Cook in Widersprüche, als er behauptete, am Pol sei die Sonne am Mittag und um Mitternacht nicht an gegenüberliegenden Positionen zu sehen gewesen. De Quervain wies ihn darauf hin, dass es dann nicht der nördlichste Punkt gewesen sein könne. Trotzdem wollte er dem charmanten Amerikaner nichts Böses, und so äußerte er selbst die wohlwollende Vermutung, dass es sich um eine falsche Erinnerung als Folge der enormen Anstrengungen handeln müsse. Bei einer Feier mit allen Passagieren hielt de Quervain die Lobrede: »Ein Cook war es, der vor mehr als hundert Jahren die Meridiane rings um die Erde kreuzte, wo sie breit auseinander sind. Ein Cook ist es heute, der sie dorthin verfolgt hat, wo sie in einem Punkte zusammenfließen. Heil seinem Namen!«
Als sich die »Hans Egede« Kap Skagen an der Nordspitze Dänemarks näherte, wurde sie von Reportern in Booten in Empfang genommen. Die hatten mehr als zehn Stunden auf dem Wasser ausgehalten für die Chance, das erste Interview zu führen oder das erste Foto zu knipsen. »Im Nu waren die Journalisten an Bord, und Cook verschwand im Handumdrehen zwischen Zylindern, Strohhüten, Notizblöcken und Bleistiften«, schrieb de Quervain später. Drei Kinematografen wurden in Position gebracht und filmten das Geschehen an Bord, auch der Schweizer war ab und zu mal im Bild.
Ob de Quervain diesen Rummel mit Neid beobachtete? Schon damals muss ihm klar gewesen sein, dass seine geplante Grönland-Durchquerung ihm nie zu der Berühmtheit eines Amundsen, Peary oder Cook verhelfen würde. Sein Plan war nichts für die Geschichtsbücher, trotz aller bevorstehenden Strapazen und Gefahren: Er konnte nicht mehr Erster sein.
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9. August 2011
Hundefjord, Ostgrönland
Meine Mutter fühlt sich seit der langen Bootsfahrt gestern etwas schlapp, sie will lieber im Lager bleiben und die heutige Tour auslassen. Patrick hatte noch angeboten, eine Stunde früher zu starten, damit wir besonders langsam gehen können. Vergeblich. Ausgerechnet auf der heutigen Etappe legt sie eine Pause ein, mein Vater bleibt mit ihr im Lager am Fjord.
Ein junger Blaufuchs beobachtet uns aus der Ferne, als wir zu siebt den Hang hinaufsteigen, zunächst parallel zu einem Fluss, der nach oben hin immer reißender wird. Patrick geht voran, er trägt eine löchrige blaue Latzhose, nicht das einzige seiner Kleidungsstücke, das seine besten Jahre schon hinter sich hat. Aus seinem Rucksack ragt der Knauf eines Gewehrs, mit dem er im Notfall Eisbären den Garaus machen will. Über trittfesten Stein laufen wir an tosenden Wasserfällen entlang, die irgendwo da oben aus dem Gletscher kommen, aus der gigantischen Eisplatte, die 85 Prozent von Grönland bedeckt.
Von Weitem wirkt die Felslandschaft eintönig grau, doch sobald man näher herangeht, zeigen sich Formen und Farben im Fels, die wie von einem abstrakten Künstler aufgetragen wirken. Schwarz-weiß gestreifte Klötze, runde Markierungen, glitzernder Quarz und rostfarbene Granate. Wo der Fels geborsten ist und sich Dutzende Risse zeigen, wirkt er wie ein Puzzlespiel aus der Steinzeit. Während berühmte Alpenberge manchmal aus der Ferne spektakulärer wirken und sich aus der Nähe als dröges Geröllfeld entpuppen, verhält es sich mit Ostgrönland umgekehrt. Nicht im Weitwinkel, sondern erst im extremen Zoom zeigt sich die wahre Pracht.
Wir passieren Schneefelder und Moränengeröll, blicken dann noch einmal zurück ins Tal. Drei lang gestreckte Felszungen sind deutlich um unser Lager herum auszumachen: Hoesslys Bjerg, Ficks Bjerg und Gaule Bjerg. Wie graue Riesenschlangen strecken sie sich in Richtung Sermilik-Fjord, in Richtung Tasiilaq, in Richtung Zivilisation. Besonders schön sind sie nicht. Hätte de Quervain für seine Mitstreiter nicht drei so richtig hübsche
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