Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
als Naturkühlschrank.
Oberhalb des Dorfes gibt es einen Aussichtspunkt mit einem spektakulären Blick auf den zwölf Kilometer breiten Sermilik-Fjord. Hinter vielen Eisbergen sind auf der anderen Seite zwei Inseln zu erkennen, links eine große, rechts eine deutlich kleinere. Die Inseln kommen mir bekannt vor. Auf der Kopie eines kleinen Stücks Pergamentpapier aus Opas Nachlass, das ich bei mir trage, sind sie eingezeichnet, samt den groben Umrissen des riesigen Fjordes und mehrerer krakenartiger Landausläufer. Die Lage der beiden Inseln wurde auf dem Papier geändert und noch ein wenig nach Westen korrigiert. Am Festland gegenüber der kleinen Insel ist ein rotes Kreuz eingezeichnet, »Depot« steht daran, eine gestrichelte rote Linie führt durchs Wasser in eine Bucht. Patrick ist begeistert. »Da drüben ist der Hoesslyberg – und unten am Ufer war das Depot«, sagt er überzeugt und deutet über den Fjord in die Richtung der kleineren Insel.
Petersen, der Mann mit dem gelben Haus und der Sonnenuhr, hatte vor 100 Jahren dort ein paar Dinge unter einem Steinhaufen vergraben, die den vier Schweizern das Überleben sichern sollten. Falls sie jemals so weit kamen. Kajaks und Konserven waren dort verstaut, ein paar Steinmänner und eine dänische Flagge dienten als Markierung. »Ich frage Julius, ob wir da halten können«, verspricht Patrick, und schon ist Tinit, diese absurde Bruchbudensiedlung im Nirgendwo, der letzte Außenposten der Menschheit vor dem endlosen Eis, nicht mehr so interessant. »Hättet ihr das nicht gleich sagen können, dann hätten wir hier kürzer Pause gemacht«, brummt Julius etwas ungehalten. Er will heute Abend noch nach Hause. Dann willigt er ein, zumindest einen zehnminütigen Zwischenstopp einzulegen.
Kurz darauf steigen neun Gestalten in leuchtenden Schwimmwesten von einem schwankenden Boot aufs Geröll, um sich auf die Suche zu machen. Die Suche nach was eigentlich? Ob hier noch rostige Dosen herumliegen? Vielleicht ist einer der Steinmänner zu sehen? Oder sonst irgendein Hinweis auf die exakte Stelle des Materiallagers? Patrick und ich rennen über zerklüfteten Fels, der Rest der Gruppe geht es etwas langsamer an. Wo würde ein kluger Mann das Depot anlegen? Doch sicher an einer etwas geschützten Stelle, etwa unter einem Felsvorsprung. Oben auf der Anhöhe, sieht das nicht aus wie ein von Menschen aufgeschichteter Steinhaufen? Bestimmt eine Täuschung. Wir entdecken reichlich brüchigen Granit, aber keine Spuren von 1912. »Das Leben am Depot ist sehr idüllich«, schrieb mein Opa. »Drunten zwischen dem Eis hören wir die Seehunde schnaufen. Manchmal kommen sie auch ganz neugierig nah heran in die Bucht, wo unser Kajaklandeplatz ist.« Der Landeplatz! Es gibt nur eine kleine Bucht an dieser Steinküste, eine geschützte Stelle etwa 15 Meter landeinwärts. »Jeder Bootsfahrer würde von dort mit dem Kajak starten«, sagt Julius. Kein Zweifel: Exakt von hier sind die damals losgepaddelt.
Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man in eine menschenfeindliche Wildnis reist, weit weg von der Zivilisation, und dann plötzlich der kargste Ort der Welt etwas Vertrautes gewinnt. Diese Stelle kennen wir, aus Opas Tagebuch und jetzt auch aus eigenem Erleben. Gelesenes und Gesehenes fügen sich zusammen wie zwei Puzzleteile.
Vor meinem inneren Auge schieben müde, bärtige Männer in Jacken aus Robbenleder und Kamiker-Schuhen ihre Kajaks in den Fjord, während sie auf Schwyzerdütsch das kalte Wasser verfluchen. Innerlich fluche ich auch, als ich wieder ins Boot steige – hätten wir doch weniger Zeit in dem Dorf verbracht und noch etwas länger gesucht!
Auf der Weiterfahrt folgen wir exakt der gestrichelten roten Linie auf der Depotkarte und biegen bald in den Hundefjord ein. Sein Name erinnert an die Tiere, die hier vor 99
Jahren zurückbleiben und sterben mussten. Zuerst hatten die Schweizer den Wasserlauf »Hoffnungsbucht« getauft, weil genau hier ihre verzweifelte Hoffnung auf eine Rückkehr in die Zivilisation lag. Später entschieden sie sich um und sorgten dafür, dass auf Landkarten für ihre Hunde ein Namensdenkmal verewigt wurde. Am Ende der Bucht legen wir an und laden das Gepäck ab. Eine andere deutsche Reisegruppe steht mit gepackten Sachen am Ufer, sie wirken mürrisch, wahrscheinlich warten sie schon etwas länger.
Nun müssen sie auch noch mit ansehen, wie eine froh gestimmte, beim Weiterreichen der Lasten allerdings stümperhaft organisierte
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