Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Felszacken aussuchen können, wie sie hinter dem Fjord viel spektakulärer aus ihren Gletschermänteln herausragen?
Als die Expeditionsteilnehmer im Sommer 191
2 hier standen und zum Wasser herabblickten, wird es ihnen egal gewesen sein. Endlich wieder fester Stein unter den Füßen!
Wir haben das umgekehrte Ziel. Nach vier Stunden sind wir auf 810 Höhenmetern am Rand einer zerfurchten weißen Wüste. Der erste Schritt aufs Inlandeis fühlt sich an, als würde man auf drei übereinandergelegte Knäckebrote treten. Ich habe noch nie Eis erlebt, das so wenig rutschig ist, man kann ohne Steigeisen problemlos laufen. Dieses vergängliche Gebilde aus gefrorenem Wasser wirkt verblüffend stabil. Und verblüffend dreckig: An vielen Stellen hat ein schwarzes Pulver runde und ovale Löcher in den Boden gebohrt. »Kryokonit«, erklärt Patrick, Asche von Waldbränden und Industrieabgasen aus Nordamerika, die der Wind bis hierher geweht hat. Durch Sonneneinstrahlung sinken die dunklen Partikel schnell ein und lassen das Eis schmelzen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass es schön wäre, die Asche meines Opas hier zu verstreuen. Jeden Tag würde sie ein kleines bisschen tiefer einsinken, eine letzte Wanderung im Eis, jahrzehntelang, jahrhundertelang.
»Wollen wir da auch mal rüberlaufen?«, fragt mich Patrick und deutet nach Westen, wo nur noch Weiß zu sehen ist bis zur Horizontlinie, wo das Eis etwas dunkler zu werden scheint. »Klar. Jetzt gleich?«, antworte ich.
Für 700 Kilometer reicht die Zeit dann doch nicht, wir werden ja abends wieder im Camp erwartet. Aber zwei Kilometer gehen wir immerhin, zwischen unzähligen hellblauen Gletscherflüssen, die sich vom Landesinneren herabschlängeln. Ab und zu müssen wir über die Furchen springen. »Die Größe lässt sich erst begreifen, wenn man zumindest ein paar Hundert Meter darauf gelaufen ist«, behauptet Patrick. Ich glaube ihm nicht. Die Dimensionen eines Eispanzers, der 1,8 Millionen Quadratkilometer groß ist, 2400 Kilometer von Süden nach Norden und bis zu 1
100 Kilometer in ostwestlicher Richtung und in der Mitte über drei Kilometer dick, diese Dimensionen lassen sich überhaupt nicht begreifen. Das Eis ist so schwer, dass der Boden teilweise Hunderte Meter nach unten abgesackt ist unter dem Gewicht. Man stelle sich Deutschland vor, komplett bedeckt von einer eineinhalb Kilometer dicken Eisschicht. Ganz Berlin unter Eis, ganz Bayern, ganz Nordrhein-Westfalen. Dann stelle man sich sechs Deutschlands vor mit einer solchen Abdeckung, und es ergibt sich etwa das Volumen des grönländischen Eises. Wenn das alles schmilzt, würden die Meere um mehr als sieben Meter ansteigen und weltweit Küsten überschwemmen.
»Klar. Jetzt gleich?« Habe ich das wirklich eben gesagt? Tatsächlich, am liebsten würde ich sofort losgehen, um herauszufinden, was es bedeutet, das Inlandeis zu überqueren. Ob es zu schaffen wäre. Ich ahne, dass mich die Idee in den nächsten Monaten weiter beschäftigen wird.
Beim Abstieg lernen wir noch eine weitere ostgrönländische Besonderheit kennen: Die Felslandschaft verwirrt die Sinne, man verschätzt sich immer wieder bei den Distanzen. Vielleicht liegt es daran, dass hier nirgends ein Baum wächst, der als Maßstab für Entfernungen helfen würde. Vielleicht liegt es an der extrem klaren Luft, die eine ungewohnt weite Sicht ermöglicht. Irgendwie funktionieren hier die Instinkte nicht so wie in anderen Gebirgen, mal braucht man das Doppelte, mal die Hälfte der erwarteten Zeit, um einen anvisierten Punkt zu erreichen. Das geht nicht nur mir so, sondern auch Patrick und Uli, meinem Onkel, der von uns allen der erfahrenste Bergsteiger und seit Jahrzehnten ständig in den Alpen unterwegs ist.
Vier Stunden brauchen wir vom Eis bis zum Camp. »Ihr habt was verpasst«, sagen wir zur Begrüßung. »Ihr auch«, sagen meine Eltern. Sie haben eine Tour in der Talsenke hinter sich und sind nicht weniger begeistert als wir. »Ist gar nicht einzusehen, warum wir seit 35 Jahren nicht gezeltet haben«, sagt mein Vater.
Zum Abendessen brutzelt Patrick frischen Lachs, den er in Tinit gekauft hat. Das ganze Aufenthaltszelt riecht nach Fisch, als meine Mutter nach dem Essen Opas Tagebuch aus der Hülle zieht. Dabei fällt etwas heraus, hinten aus der Umschlagklappe. »Huch, ich habe zu Hause vergessen, das rauszunehmen«, sagt sie. Ein winziger Briefumschlag mit Poststempel aus Jevnaker in Norwegen, nicht weit von Oslo. Darin befindet sich nur eine
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