Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Orth
Vom Netzwerk:
als sie langsam den Bergbuckel hochspaziert. Die letzten Schritte sind ein Kinderspiel, der griffige, flache Fels bietet sicheren Halt, eine Wohltat nach den ganzen Schneefeldern und Geröllhalden. Sie erreicht den höchsten Punkt, stemmt die Hände in die Hüften, zufrieden, ein bisschen erschöpft, voller Genugtuung: »Ganz ungewohnt ist das.« Sie meint die Fotoapparate, doch eigentlich gilt das für die ganze Reise.
    Hinter uns bildet das Inlandeis einen geraden weißen Horizont über dem Granit, vor uns liegt der Fjord, irgendwo weit unten, hinter Felsen versteckt, unsere grünen Zelte. Eisberge, so groß wie Wohnmobile, wirken von hier oben wie Würfelzucker. Es ist ein perfekter Tag, sonnig, 14 Grad Celsius, kaum eine Wolke am Himmel.
    Als Nächstes dürfen mein Bruder Christian und ich aufsteigen. Wieder piepsen und klicken die Kameras, das Motiv ist jetzt komplett. Was für manchen Extrembergsteiger der Mount Everest oder der K2 ist, das ist dieses Stück Granit für uns Hobbywanderer: der wichtigste Gipfel von allen.
    Unser persönlicher Schicksalsberg ist weder besonders hoch noch besonders schön. Mancher Profialpinist würde ihn nicht mal in seinem Tourenbuch vermerken. Aber der Rundblick aus 640 Metern Höhe auf eine baumlose Welt aus Kälte und Stein ist genauso spektakulär wie die Aussicht von erheblich berühmteren Bergen. »So ähnlich muss es in den Alpen in der letzten Eiszeit ausgesehen haben«, sagt Uli.
    Ficks Bjerg. Opas Berg im Eis. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass er selbst nie hier oben stand. Aber oft blickte er von Zeltplatz 29 am Rand des Inlandeises auf seine Felszunge herab. Auf eine so absurde Idee, dass in 99 Jahren alle seine Nachkommen dort stehen würden, wäre er wohl im Traum nicht gekommen.
    Bei dem Anblick, wie meine Mutter nun Opas Tagebuch, das »scheissende Rabenbüchli«, auf den höchsten Punkt des Berges legt, würde so mancher Antiquar in Ohnmacht fallen. Just in dem Moment taucht am Himmel ein echter schwarzer Rabe auf, zieht seine Kreise über uns und stößt ein paar lang gezogene Krächzer aus. Außer den Fliegen ist er das einzige Tier, das wir heute gesehen haben, bald dreht er ab nach Osten in Richtung Fjord.
    Der Wind blättert durch die 100 Jahre alten Seiten des Tagebuchs, ich mache Fotos aus allen Perspektiven. »Mit den Bildern könntest du ihn wirklich überraschen«, sagt meine Mutter. Plötzlich finde ich es absolut richtig, dass wir das Original dabeihaben und keine Kopie. Mein Opa hatte sich sein Leben lang gewünscht, noch einmal nach Ostgrönland zu kommen. Jetzt sind wenigstens seine Erinnerungen zum zweiten Mal hier.
    »Bitte alle mal die Augen zumachen«, sagt Traudl plötzlich. Und eine halbe Minute später: »Jetzt dürft ihr schauen!« Auf dem Gipfel stehen fünf silbern schimmernde Dosen Secco Frizzante, 2010, Italia, Mario Collina, pfand-, aber garantiert nicht alkoholfrei. Zusammen mit selbst geschmierten Schwarzbrotscheiben mit Käse und Salami und schwedischen Brago-Schokokeksen ergibt sich ein in der Familiengeschichte einmaliges Festpicknick.
    Mein abstinenter Opa soll nur einmal in seinem Leben ein Glas Weißwein getrunken haben, bei der Hochzeit mit seiner zweiten Frau, meiner Oma.
    Ich glaube, wenn er heute dabei wäre, würde er zumindest mal nippen.
    Dann trennen wir uns: Patrick, Uli, Eckhart und ich gehen noch ein paar Stunden weiter bis zum nächsten Fjordarm, die anderen kehren nach einer längeren Rast um in Richtung Zeltlager. Eckhart beneide ich im Stillen, weil er einen Bilderbuch-Opa hatte, einen Kieler Kapitänsveteran, der noch mit 85 nach Japan in den Urlaub flog, mit 90 eine neue Freundin präsentierte und mit 95 bei seiner Geburtstagsrede alle Gäste (und das waren ziemlich viele) mit Namen und Herkunft vorstellte. Vor zwei Jahren starb er im Alter von 101 Jahren. Wäre Roderich so alt geworden, hätte ich ihn noch ein paar Jahre erlebt. Wäre er noch so fit gewesen, hätte er mir selbst alles über Grönland erzählt.
    Wir schlittern über Gletscher und queren reißende Sturzbäche, bis wir an einer mit Eisbergen übersäten Bucht herauskommen. Ein Entenschwarm fliegt in Formation darüber hinweg, Opa hätte ein köstliches Abendessen schießen können. Auf dem Rückweg verschätzen wir uns wieder einmal mit den Distanzen: Als wir abends wieder zu den Zelten hinabsteigen, ist die Sonne schon untergegangen, seit unserem Aufbruch sind 13 Stunden vergangen. Dunkel wird es hier im August nicht vor Mitternacht, so

Weitere Kostenlose Bücher