Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
nicht allein den Rückweg antreten müssen, heißt es auch für Jost und Mercanton »Abschied von der Expedition zu nehmen, die am 22. Juni in bester Verfassung und wohlausgerüstet den langen Marsch nach der Ostküste allein fortsetzte«, wie Mercanton in einem Artikel für die »Neue Zürcher Zeitung« schreibt, der drei Monate später erscheint. Bald sind von den beiden nur noch die Köpfe zu sehen, dann nur die Mützen – die vier Expeditionsteilnehmer sind allein mit ihren Hunden und Schlitten.
Und prompt bekommt es de Quervain, der sonst bis in die gezwirbelten Bartspitzen rationale Wissenschaftler, mit der Angst zu tun. Er schreibt: »Am Abend dieses Tages hatte ich ein seltsames und für Philister vielleicht unverständliches Erlebnis. Ich hatte allein noch vor dem Zelt zu tun. Die andern schliefen drinnen. Da sah ich in den weissen, eigentümlich verschlungenen Federwolken, die den Himmel überzogen, im Osten riesengross, unbeweglich eine grinsende Fratze stehen. Sonst war ich ja der letzte, in den Wolken Phantasiebilder zu suchen. Aber war das nicht der Dämon des Inlandeises, der uns erwartete? Es stieg in mir auf, was mir einer geschrieben hatte, der wohl urteilen konnte: ›Die Ausführung Ihres Planes bedeutet Ihr Verderben ...‹ Doch was konnte passieren? Unsere Schlitten waren beladen mit reichlichem Proviant, die Ausrüstung war wohl überdacht und schon erprobt, die Hunde stark, die Schneebahn erreicht, die Spalten verschwunden! Die Antwort brachte schon der folgende Morgen.«
10. August 2011
Hundefjord, Grönland
Am nächsten Morgen bekommen wir als Erstes kalte Füße. Wir müssen durch den eisigen Fluss, der nördlich von unserem Lager den Weg zu Ficks Bjerg versperrt. Für etwa 40 Meter ziehen wir die Wanderschuhe aus und schlüpfen in Sandalen, nur Patrick läuft barfuß. Meine Eltern im Eiswasser, mit ihren dicken Wanderschuhen aus Leder um den Hals gebunden und hochgekrempelten Hosenbeinen. Ohne Klagen machen sie das alles mit. Das Wasser ist so kalt, dass die Füße taub sind, als wir an der anderen Seite ankommen. Wenigstens sind jetzt alle wach.
Heute sind wir vollzählig, diese Tour will sich wirklich keiner entgehen lassen. Ich frage meine Mutter, wie es ihr geht. »Ja, ganz gut«, sagt sie. Bei den anderen ist die Stimmung blendend, was man auch daran erkennen kann, dass sich die Geschwister Wolfgang, Uli und Traudl mit Inbrunst necken.
Mein Vater hat einen viel zu schweren Rucksack für die Tagestour dabei, sogar Biwaksäcke hat er eingepackt, falls eine Notübernachtung unter freiem Himmel nötig wird. Eine Diskussion beginnt, was er wohl sonst noch an Unbrauchbarem dabeihat. »Jetzt pack’ mal alles aus«, verlangt Uli im Oberlehrerton. Patrick versucht, das Thema zu wechseln, sagt irgendwas über die Schönheit der Landschaft. Aber gegen Sticheleien zwischen Familienmitgliedern, die für Außenstehende immer schärfer klingen, als sie gemeint sind, kommt er nicht an. »Jetzt geben wir ihm alles zurück, was er uns früher angetan hat«, frohlockt Traudl, die jüngste der drei.
Über steile Schneefelder und Geröll erreichen wir auf 540 Höhenmetern den ersten Rastplatz, direkt an einem kleinen See im Fels. Plötzlich spricht keiner mehr, vielleicht aus Erschöpfung, vielleicht aus Begeisterung über die Aussicht auf die Fjordlandschaft. Teeschlürfen, ratschende Reißverschlüsse, das Klicken von Rucksackschnallen, schniefende Nasen – mehr ist nicht zu hören. Mit den Worten »Frisch wird’s« beendet Patrick die Schweigeminute. Das sagt er immer, wenn er aufbrechen will. Mein Vater säubert den Becher seiner Thermoskanne im See. »Hast du auch noch eine Flasche Spüli dabei?«, fragt Uli.
Ab jetzt ist es weniger steil, über abgeschliffene Granitblöcke kommen wir dem höchsten Punkt näher. Der ist zunächst gar nicht so leicht zu identifizieren, weil der Berg oben eine Hochebene bildet mit einigen Buckeln. Welcher davon ist der Höchste? Meine Mutter deutet auf einen davon. »Dann erklären wir das da drüben zum Gipfel«, schlägt sie vor, schon etwas ungeduldig.
Patrick geht noch 100 Meter weiter, bis er sicher ist, die richtige Stelle gefunden zu haben. Dann bleibt er plötzlich stehen. Er stellt seinen Rucksack mit dem Schrotgewehr auf den schwarz-weißen Granitboden und dreht sich um. »Du musst als Erste rauf«, sagt der Reiseleiter zu meiner Mutter. Digitalkameras werden gezückt, fünf Objektive richten sich auf die
61-Jährige im grau-weiß karierten Hemd,
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