Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Segelns, im Stehen kann ich morgens ein paar Achten üben mit dem Lenkdrachen. Aber für eine Fortbewegung auf Skiern reicht es nicht. Der Kursanbieter erstattet die Teilnahmegebühr zurück. Bezahlen sollte ich dann später dennoch für diesen Fehlschlag.
Juni 1912
Grönland, Inlandeis
»Unsere schöne Expedition! dachte ich beim Hinabsinken. Ich fand unter meinen Füßen keinen Grund, aber über mir eine Schlittenkufe und eine hilfreiche Hand, die mir erlaubten, mich aufs festere Eis emporzuarbeiten«, schreibt de Quervain in seinen Erinnerungen über den Schock, den die Gruppe am vierten Reisetag erlebte. Alle drei Schlitten sind ins Eiswasser eingebrochen und drohen zu versinken. Wenn sie sich der Unglücksstelle nähern, bricht nur mehr Eis ab, sie verlieren den Halt und stürzen ins Wasser, das kaum wärmer als null Grad ist und die Haut in Sekundenschnelle taub werden lässt. Zum Glück können einige Skier von den Schlitten gelöst werden. Mit ihrer Hilfe ist es den Männern möglich, sich näher an das Eisloch vorzuarbeiten, ohne gleich wieder einzubrechen. »Vor allen Dingen muss der Sack mit den Schlafsäcken geborgen werden, denn davon hängt unser Leben ab«, schreibt Roderich in seinem Tagebuch. »Es gelingt, sie sind sogar in dem wasserdichten Sack trocken geblieben. Dann die Schneeschuhe und Gletscherseile. Mit den Seilen werden die Schlitten gegen das festere Eis verankert, damit sie nicht ganz untergehen.«
Die vier versuchen, einen der Schlitten mit dem Seil herauszuziehen. Vergeblich. Dabei bröckelt nur mehr von der Eisdecke ab, und der See vor ihnen vergrößert sich. Roderich und Gaule gehen halb ins Wasser, um die Ladung an Land zu bugsieren. Oft brechen sie wieder durch und sinken ein.
Drei Stunden dauert es, die Ausrüstung einzeln von den Schlitten zu schneiden, Roderich blutet stark an den Händen, Hose und Jacke sind so fest gefroren, dass er danach kaum mehr zum Zelt laufen kann. Würde er gleich jetzt und nicht mit einigem zeitlichen Abstand sein Tagebuch schreiben, den Satz vom »Abenteuer, das die Reise nur verschönert, da es gut abgelaufen ist« hätte er vermutlich so nicht geschrieben.
8. Februar 2012
Hamburg
Als ich ein Kind war, las meine Mutter meinem Bruder Christian und mir abends »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende vor. Ein Junge namens Bastian Balthasar Bux entdeckt in einer Bibliothek ein altes vergilbtes Buch, das von einer exotischen Welt namens Phantásien handelt. Die wird vom Untergang bedroht, weil sich das »Nichts« immer weiter ausbreitet: Ganze Teile dieser Welt werden in einem grauen Nebel buchstäblich zu nichts und sind verloren.
Bastian bewundert den furchtlosen Atréju vom Stamm der Grünhäute, den Hauptcharakter der Erzählung, weil er viel heldenhafter ist als er selber: ein wilder Jäger, der auf einem Pferd ohne Sattel durch die Landschaft reitet und für jedes Problem eine Lösung findet. Nach und nach gerät Bastian immer mehr in die Geschichte hinein und gelangt schließlich selbst nach Phantásien, wo er zusammen mit Atréju die Welt retten soll. Ein altes Buch hat sein Leben komplett auf den Kopf gestellt und bedeutet für ihn die Eintrittskarte ins Abenteuer.
Für mich gibt es ein solches Buch nun mit den Aufzeichnungen meines Großvaters tatsächlich. Es führt ebenfalls in eine Welt, die vom Nichts beherrscht wird, auf jeder Weltkarte ist es als große weiße Fläche eingezeichnet. Allerdings handelt es sich um ein kostbares Nichts. Ein heutiger Weltenretter müsste seine Zerstörung stoppen, nicht seine Ausbreitung, denn die Erde im 21. Jahrhundert könnte ein bisschen mehr »Nichts« gut gebrauchen.
Wegen des alten Tagebuches habe ich Haralds Expeditions-Theoriekurs in Berlin gebucht und Flugtickets nach Oslo und Zürich. In Norwegen werde ich mit Korth und Team eine Woche lang mit Zelt und Skiern durch die Wildnis stapfen. Und in der Schweiz werde ich den Nachlass von Alfred de Quervain sichten und anschließend zum Training in die Berge fahren.
Ich nehme neuerdings bei jedem Wetter das Fahrrad zur Arbeit, gehe joggen und ins Fitnessstudio. Sportmedizinisch interessant wird meine Arktisvorbereitung durch die Tatsache, dass ich gleichzeitig schlemme wie ein Irrer. Wer längere Zeit in der Kälte verbringt, kann ein paar Fettpolster gut gebrauchen. Motivationsprobleme am Esstisch sind erheblich seltener als beim Sportprogramm. Kürzlich las ich von zwei Australiern, die sich vor ihrer Antarktis-Expedition unfassbare 20
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