Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Kilogramm zusätzlich angefressen haben.
Ich wäre schon mit fünf zusätzlichen Kilo zufrieden, denn mein Talent zur Gewichtszunahme ist begrenzt, was für den Lebensalltag fernab von Eiswüsten ein Glücksfall ist. Unlängst habe ich mir aus einer Weight-Watchers-Tabelle alles notiert, was dort als Todsünde für Schlankheitskuren eingestuft wird. Currywurst mit Pommes (24 Punkte), Pizza Calzone (30 Punkte), Brathähnchen mit Haut (
18 Punkte), Döner (16 Punkte). Nach zwei Tagen mit einem hieraus entstandenen Experimental-Speiseplan gebe ich wegen Komplikationen bei meinen Fitnessfortschritten wieder auf. Jetzt muss es ein täglicher Nachschlag in der Kantine am Arbeitsplatz richten.
Inzwischen beschäftige ich mich mehr mit meinem Großvater als mit meinen Freunden oder lebenden Verwandten. Mein neuer bester Freund heißt Roderich und ist seit 57 Jahren tot, ich habe viele unvergessliche Abende mit ihm verbracht. Vor Kurzem habe ich angefangen, sein Tagebuch abzutippen, Wort für Wort. Ich schreibe seinen Text noch einmal und behalte seine eigentümliche Rechtschreibung bei. Inzwischen komme ich nicht mal mehr ins Stocken, wenn er giengen statt gingen schreibt oder idüllich statt idyllisch oder Tüpen statt Fotografieren. Ein paar Passagen kenne ich schon auswendig, »Es war am Morgen nach dem vierten Reisetag im Gebiet der Inlandeisseen, als Hoesslis Gespann ...« und so weiter, das kann ich runterrattern wie ein Pfarrer die Weihnachtsgeschichte.
Wie gerne würde ich Opa ein paar Fragen stellen. Ob er in Grönland die schönste Zeit seines Lebens hatte. Wie sich das anfühlt, zu wissen, dass man entweder aus eigener Kraft ans Ziel kommt oder stirbt.
In Schweizer Online-Verzeichnissen suche ich nach Menschen, die Hoessly oder Gaule heißen. Per E-Mail frage ich dann, ob sie verwandt sind mit dem Arktis-Hoessly oder dem Arktis-Gaule und ob möglicherweise noch Aufzeichnungen ihrer Vorfahren in irgendeinem Schrank lagern. Bislang ohne Erfolg. Außerdem schreibe ich an potenzielle Sponsoren, ob sie unsere Reise unterstützen wollen. Vor 100 Jahren gab es für de Quervain und seine Männer unter anderem Maggi-Suppen, Kondensmilch von Cham und Stalden, Lindt-Schokolade und Dethleffsen-Holzski umsonst. Für die Skier mussten sie eine Vereinbarung unterschreiben, dass sie später das am stärksten beanspruchte Paar zurückgeben, damit die Schäden inspiziert werden konnten. Ansonsten genügte das Versprechen, die Hersteller in Zeitungsartikeln und Büchern zu erwähnen. Expeditionsfotos mit auffälligen Ausstatterlogos, wie man sie heute ständig sieht, sind damals nicht entstanden.
Meine Mutter ruft an und fragt, ob ich eigentlich das Zusatzheft zum Grönland-Tagebuch schon gelesen habe. Das Zusatzheft? Ja, die Aufzeichnungen, die er in Kamerun im Ersten Weltkrieg verloren und nachher aus dem Gedächtnis wieder aufgeschrieben hat. Mit den ganzen persönlichen Sachen, wo er seine Motivation beschreibt und so. Sie sagt das ganz beiläufig, als würde sie von einer Rezeptsammlung für Nudelgerichte reden. Ich bin völlig aus dem Häuschen und kann es kaum erwarten, eine Kopie zu bekommen.
Ich genieße ich es sehr, zum ersten Mal im Leben einen Opa zu haben. Ich lerne ihn nicht als Pfeife rauchenden alten Mann im Schaukelstuhl kennen, der von alten und besseren Zeiten erzählt. Und schon gar nicht als verwirrten »Früher war mehr Lametta«-Greis aus einem Loriot-Sketch. Sondern als abenteuerlustigen 25-Jährigen, der noch nicht so recht weiß, wo sein Platz im Leben ist. Er hat einen Traum und gibt alles dafür, ihn sich zu erfüllen, obwohl es ein lebensgefährlicher Traum ist. Vielleicht beneide ich ihn ein bisschen für diesen Mut.
Er ist jetzt sieben Jahre jünger als ich, wir könnten Studienfreunde sein oder uns im Sportverein kennengelernt haben. Zwei junge Männer, die das Reisen lieben. Im Sommer laufen wir gemeinsam quer durch Grönland, er voran und ich in seinen Spuren.
16. März 2012
Oslo
Für das abschließende einwöchige Assessment Center hat Wilfried Korth die Hardangervidda in Norwegen ausgewählt, eine Hochebene, in der schon Amundsen für seine Arktisreisen trainierte.
Bevor es losgeht, muss ich allerdings noch meine Ausrüstung in Oslo aufstocken. De Quervain hat damals Schlitten und Schlafsäcke in Norwegen bestellt, weil sie woanders nicht in der benötigten Qualität zu kriegen waren. Ich dachte, diese Zeiten sind dank riesiger Outdoor-Kaufhäuser und globalisierter Marken längst
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