Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
sie in die Irre laufen lässt. »Da grüßten uns die ersten Pflanzen«, schreibt de Quervain. »Eine armselige Carex, die uns aber prächtig vorkam, und dann eine kleine Nelke und eine Zwergweide. Nun stand uns eine lange Wanderung über den Bergrücken bevor. Die Entfernungen können kaum richtig beurteilt werden; höchstens gibt der abgestufte Farbenton einen Anhaltspunkt: Die nahen Felsen erscheinen braun, die weitern rötlich, sehr weit entfernte violett.«
Die Skizze muss tatsächlich extrem ungenau sein, wenn sie den Kartographieprofi de Quervain derartig verwirrt. Von den drei Felszungen Hoessly Bjerg, Ficks Bjerg und Gaule Bjerg steuert er die südlichste an.
Nach vielen gelaufenen Kilometern müssen er und der Namenspate des Berges feststellen, dass hier ganz bestimmt kein Depot zu finden ist. Dafür entdecken sie vor sich im Fjord die große Insel Kekertatsuatsiak. Die existiert schon mal, immerhin. Vermutlich können beide ihren Namen inzwischen problemlos aussprechen. Doch wo ist Umitujarajuit, der andere Zungenbrecher? Sie sehen nicht nur eine kleinere Insel daneben, wie die Karte vorgaukelt, sondern ganz viele.
Es ist schon spät, also beschließt de Quervain, hier zu übernachten. Sie zünden Heidekraut an, als Signalfeuer für etwaige Inuit-Zeltlager am anderen Ufer des Sermilik-Fjords und zum Wärmen, dann legen sie sich in ihren Windjacken aus Segeltuch daneben.
Mehrere Tage irren sie noch an der Küste mit ihren vielen kleinen Fjordarmen herum und suchen nach einer dänischen Flagge als Markierung. Immer wieder sehen sie es rot aufblitzen, doch das ist nur der bunte Gneis. Die Essensvorräte werden knapp, und die Sorge wächst, ob hier überhaupt ein Depot zu finden ist. Einmal immerhin, notiert de Quervain, »konnten wir uns vorübergehend einem philosophischen Thema zuwenden, nämlich dem Begriff und Umfang des Gegenwärtigkeitsvermögens, und zwar, nach beliebtem Muster, a) beim Kinde, b) bei den Griechen, c) bei einem vollkommenen Wesen. Letzterer Abschnitt wurde gestört durch neue eklig glatte und schräge Platten, die uns gar zu gerne in den Fjord befördert hätten und unsere Gedanken vom Gegenwärtigkeitsvermögen im allgemeinen auf die Gegenwart im speziellen richteten.« Zu schade, dass diese in der Geschichte Ostgrönlands wohl einmalige Debatte vorzeitig abgebrochen werden musste!
Die beiden wandernden Philosophen steigen die Flanke zu Ficks Bjerg hinauf und laufen über die Felszunge vor Hoesslys Bjerg erneut zum Fjordufer. Dort, endlich, entdecken sie einen Steinmann! Ein Weidenzweig hängt als Wegweiser zwischen den Felsbrocken, er deutet nach Nordosten. Gaule greift zum Fernglas. Tatsächlich, unten am Ufer steht ein zweiter Steinmann. »Daraufhin beschliessen wir, aus dem Rest unseres Proviants ein Bankett zu veranstalten. Es kamen auf jeden noch fünf Kaffeelöffel kondensierte Milch und anderthalber Fingerhut Brotkrumen«, erinnert sich de Quervain.
Eine Stunde später stehen sie neben einem im Föhnwind wehenden Danebrog und lesen einen Zettel von Johan Petersen, dem Ortsvorsteher von Angmagssalik: »Willkommen; die Kajake liegen unten am Ufer und die Kamiker liegen drin.« Vor ihnen stehen Holzkisten mit all den Dingen, die de Quervain im August 1911 für dieses Lager per Schiff hat herschicken lassen. 25 Kilo Pemmikan, fünf Kilo Schokolade, sechs Gläser Kirschmarmelade, sechs Gläser Reineclaudenmarmelade, eine Dose Maggi-Bouillon, fünf Stangen Maggi-Suppen und viele weitere Köstlichkeiten, dazu ein Zelt, Seifenstücke und Ersatz-Sonnenbrillen.
Die Verlockung ist groß, sich richtig satt zu essen, doch die beiden Männer wissen, dass ihre Mitstreiter oben am Eis seit fünfeinhalb Tagen warten. Deshalb entzünden sie nur noch schnell ein Signalfeuer und gehen zum Ufer. Mit den vier Kajaks, zwei im Schlepptau, paddeln sie durch die Hoffnungsbucht, zurück nach Westen. Die ganze Nacht sind sie unterwegs, bis sie morgens um 9 Uhr endlich die anderen erreichen. Gaule stürmt vor und verkündet knapp die frohen Botschaften. »Depot da?« – »Ja!« – »Kajake da?« – »Ja, alles tadellos!« De Quervain fährt ihn an, er solle still sein, und berichtet dann selbst von der abenteuerlichen Suche.
Dann fallen Gaule und er in einen tiefen Schlaf im Zelt. Die anderen beginnen, alles für den Abstieg vorzubereiten.
25. August 2012
Grönland, Ostküste
Vor meiner Abreise nach Grönland bekam ich ständig Ratschläge, was bei einer Begegnung mit einem Eisbären zu tun
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