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Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Orth
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Morgen kamen wir hinauf zu ihm über die Moräne, um die Schlitten wieder so gut wie möglich in Ordnung zu bringen. Der kleine Schwarze lag so traurig neben seinem Freund, nahm keine Notiz von uns und verweigerte das Fressen. Er war nicht mehr wegzubringen, auch als wir von der Moräne abreisten, blieb er liegen und ist dann jedenfalls dort verhungert. Wir haben ihn beim Weggehen nicht erschossen, weil wir dachten, er würde schliesslich doch unserer Spur folgen. Er ist aber nicht nachgekommen.

25. August 2012
Grönland, Ostküste

    Ich sitze nach dem Frühstück im Küchenzelt, lese diese Passagen und habe das Gefühl, mich auf der Spur eines schießwütigen Killers zu befinden. Wie sachlich und detailliert er das Töten beschreibt! Wie schön wäre es, stattdessen einen friedfertigen Schaukelstuhlopa zu haben und nicht diesen jungen Cowboy mit seinem rauchenden Gewehr!
    Sozialpsychologen haben herausgefunden, dass eines der wertvollsten Merkmale einer gesunden Opa-Enkel-Beziehung die bedingungslose Wertschätzung ist. War ich damit zu voreilig? Oder ist das eigentlich Grausame doch vielmehr die Idee, mit 29 Hunden durch die Eiswüste zu laufen, deren Tod von Anfang an beschlossene Sache ist? Auch Amundsen hat bei seiner Eroberung des Südpols die Zugtiere als Proviant mit eingerechnet. Was würden Tierschützer dazu sagen, wenn das heute jemand wagte?
    Ich denke an die anderen Bilder, die ich von Roderich Fick in meinem Kopf mit mir herumtrage, Bilder von später, aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren. Aus der Zeit, in der seine Expeditionskollegen schon längst tot waren, sie starben jung, keiner von ihnen hat sein 50. Lebensjahr erreicht.
    Denn das ist die andere Wahrheit über meine Grönlandreise, die ich mir erst jetzt eingestehe: Ich wollte unbedingt, dass Opa mir wenigstens als 25-Jähriger gefällt, weil ich es schwierig finde, ihn als 50-Jährigen zu mögen. Das Eis war die weiße Leinwand, auf der mein Wunschbild entstehen sollte. Das Wunschbild von meinem neuen besten Freund, zum Leben erwacht aus dem Tagebuch.
    Deshalb bin ich erleichtert, als ich ein paar Seiten später eine Passage entdecke, die mir sehr menschlich vorkommt: »Das Erschiessen der Hunde geht mir sehr nah«, steht dort. »Ich muss immer wieder dran denken, wie anhänglich die raue Gesellschaft geworden ist; besonders tut mir der grosse Jakobshavner leid, der mir selber immer die Schnauze zum Zubinden hingehalten hat und mir überallhin gefolgt ist. Manchmal, wenn ich allein bin, kann ich in dem Gedanken an seinen Tod die Tränen nicht zurückhalten. Ich hab’s sogar jetzt nach 2 Jahren in Kamerun noch nicht überwunden, und ich möchte noch alle Peitschenhiebe, die ich auf der Reise den Hunden gegeben hab wieder zurücknehmen.«
    Wilfrieds Schimpftiraden am Laptop nebenan reißen mich aus der Lektüre. Sein Optimismus hat auf unserer Expedition spürbar gelitten. Er hat versucht, per E-Mail unsere Flüge umzubuchen, als Antwort kam eine Mail mit 500-Kilobyte-Anhang. Per Satellitentelefon dauert es mehr als eine halbe Stunde, so eine Datenmenge zu laden. Mir fällt auf, dass Wilfried zu den Menschen zählt, die in ganzen Sätzen fluchen können. Das ist gar nicht so einfach, die hohe Kunst besteht darin, alle Worte in gleichbleibend wütendem Tonfall ohne hörbare Interpunktion zu intonieren (probieren Sie es mal mit dem Fluch »JetzthabendieBlödmänner vonAirGreenlandihreganzenScheißAGBsmitgeschicktdiebraucht dochkeinMenschhierverdammteScheiße!«).
    Nach einer gefühlten Ewigkeit sind alle Paragrafen und Unterparagrafen geladen, und wir können endlich aufbrechen. Wir wollen noch für ein paar Tage unten am Hundefjord zelten. Mit 25-Kilo-Rucksäcken beginnen wir den Abstieg in Halbschuhen, keiner hat vernünftige Wanderstiefel dabei. Das Küchenzelt und die Pulkas lassen wir stehen. Der Weg erfordert volle Konzentration, weil wir alle nicht das richtige Schuhwerk für eine Bergtour mit schwerem Gepäck dabeihaben. Eine ganz schöne Plackerei. »Die Ostküste oder der Tod«, sage ich in einer Pause. Keiner lacht.
    Es ist ein Wunder, dass wir nach Stunden mit acht intakten Sprunggelenken im Tal ankommen. Viel Grün, Wollgras und Wurzelranken im Boden, es riecht nach feuchtem Moos. Schwarze Mückenknäuel summen um unsere Köpfe, am Ufer kreisen zwei Möwen und mehrere Sperlinge. Wie konnte ich nur diese bunte Pracht vor einem Jahr als Kargheit empfinden? Mitten im pulsierenden Leben bauen wir unsere Zelte auf.
    Schriftliche

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