Oper und Drama
zu üppigster Fülle entfalteten Rhythmik als selbständige Kunsterscheinung zu den Ansprüchen erwuchs, von sich aus die Dichtkunst zu bestimmen und das Drama anzuordnen. Der wiederum selbständig für sich ausgebildete Wortvers konnte, in seiner Gebrechlichkeit und Unfähigkeit für den Gefühlsausdruck, auf diese Melodie überall da, wo er in Berührung mit ihr geriet, keine gestaltende Kraft ausüben; im Gegenteil mußte bei seiner Berührung mit der Melodie seine ganze Unwahrheit und Nichtigkeit offenbar werden. Der rhythmische Vers ward von der Melodie in seine in Wahrheit ganz unrhythmischen Bestandteile aufgelöst und nach dem absoluten Ermessen der rhythmischen Melodie ganz neu gefügt: der Endreim ging aber in ihren mächtig an das Gehör antönenden Wogen klang- und spurlos unter. Die Melodie, wenn sie sich genau an den Wortvers hielt und sein für die sinnliche Wahrnehmung konstruiertes Gerüst durch ihren Schmuck erst recht kenntlich machen wollte, deckte von diesem Verse gerade das auf, was der verständige Deklamator, dem es um das Verständnis des Inhaltes zu tun war, an ihm eben verbergen zu müssen glaubte, nämlich seine ärmliche, den richtigen Sprachausdruck entstellende, seinen sinnvollen Inhalt verwirrende, äußere Fassung – eine Fassung, die, solange sie eine nur eingebildete, den Sinnen nicht merklich aufgedrungene blieb, am mindesten zu stören vermochte, die aber dem Inhalte alle Möglichkeit des Verständnisses abschnitt, sobald sie dem Gehörsinne mit bestimmender Prägnanz sich kundtat und diesen dadurch veranlaßte, sich zwischen die Mitteilung und die innere Empfängnis als schroffe Schranke aufzustellen. Ordnete sich die Melodie so dem Wortverse unter, begnügte sie sich, seinen Rhythmen und Reimen eben nur die Fülle des gesungenen Tones beizugeben, so bewirkte sie jedoch nicht nur die Darstellung der Lüge und Unschönheit der sinnlichen Fassung des Verses zugleich mit der Unverständlichung seines Inhaltes, sondern sie selbst beraubte sich aller Fähigkeit, sich in sinnlicher Schönheit darzustellen und den Inhalt des Wortverses zu einem ergreifenden Gefühlsmomente zu erheben.
Die Melodie, die sich ihrer auf dem eigenen Felde der Musik erworbenen Fähigkeit für unendlichen Gefühlsausdruck bewußt blieb, beachtete daher die sinnliche Fassung des Wortverses, der sie für ihre Gestaltung aus eigenem Vermögen empfindlich beeinträchtigen mußte, durchaus gar nicht, sondern setzte ihre Aufgabe darein, ganz für sich, als selbständige Gesangsmelodie, in einem Ausdrucke sich kundzugeben, der den Gefühlsinhalt des Wortverses nach seiner weitesten Allgemeinheit aussprach, und zwar in einer besonderen, reinmusikalischen Fassung, zu der sich der Wortvers nur wie die erklärende Unterschrift zu einem Gemälde verhielt. Das Band des Zusammenhanges zwischen Melodie und Vers blieb da, wo die Melodie nicht auch den Inhalt des Verses von sich wies und die Vokale und Konsonanten seiner Wortsilben nicht zu einem bloßen sinnlichen Stoffe zum Zerkäuen im Munde des Sängers verwendete, der Sprachakzent . – Glucks Bemühen ging, wie ich früher bereits erwähnte, nur auf die Rechtfertigung des – bis zu ihm in bezug auf den Vers meist willkürlichen – melodischen Akzentes durch den Sprachakzent. Hielt sich nun der Musiker, dem es nur um melodisch verstärkte, aber an sich treue Wiedergebung des natürlichen Sprachausdruckes zu tun war, an den Akzent der Rede , als an das einzige, was ein natürliches und Verständnis gebendes Band zwischen der Rede und der Melodie knüpfen konnte, so hatte er hiermit den Vers vollständig aufzuheben , weil er aus ihm den Akzent als das einzig zu Betonende herausheben und alle übrigen Betonungen, seien es nun die eines eingebildeten prosodischen Gewichtes oder die des Endreimes, fallen lassen mußte. Er überging den Vers somit aus demselben Grunde, der den verständigen Schauspieler bestimmte, den Vers als natürlich akzentuierte Prosa zu sprechen: hiermit löste der Musiker aber nicht nur den Vers, sondern auch seine Melodie in Prosa auf , denn nichts anderes als eine musikalische Prosa blieb von der Melodie übrig, die nur den rhetorischen Akzent eines zur Prosa aufgelösten Verses durch den Ausdruck des Tones verstärkte. – In der Tat hat sich der ganze Streit in der verschiedenen Auffassung der Melodie nur darum gedreht, ob und wie die Melodie durch den Wortvers zu bestimmen sei. Die im voraus fertige, ihrem Wesen nach aus dem Tanze gewonnene
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