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Oper und Drama

Oper und Drama

Titel: Oper und Drama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wagner
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hieben die Bäume selbst um – bis auf die Wurzeln, um zu sehen, ob nicht auch diese durch künstliche Zubereitung schmackhaft oder doch wenigstens verschlingbar gemacht werden könnten. So räudeten wir den ganzen schönen Naturwald des Volkes aus, daß wir mit ihm nun als nackte, hungerleidige Bettler dastehen.
    So hat denn auch die Opernmusik, da sie ihrer gänzlichen Zeugungsunfähigkeit und des Vertrocknens aller ihrer Säfte bewußt wurde, sich auf das Volkslied gestürzt, bis auf seine Wurzeln es ausgesogen, und sie wirft nun den faserigen Rest der Frucht in ekelhaften Opernmelodien dem beraubten Volke als elende und gesundheitsschädliche Nahrung hin. Aber auch sie, die Opernmelodie, ist nun ohne Aussicht auf alle neue Nahrung geworden; sie hat alles verschlungen, was sie verschlingen konnte; ohne mögliche frische Befruchtung geht sie unfruchtbar zugrunde: sie kaut nun mit der Todesangst eines sterbenden Gefräßigen an sich selber herum, und dieses widerliche Herumknaupeln an sich selbst nennen deutsche Kunstkritiker »Streben nach höherer Charakteristik«, nachdem sie zuvor das Umschlagen jener ausgeplünderten Volksfruchtbäume »Emanzipation der Massen« getauft hat! –
    Das wahrhaft Volkstümliche vermochte der Opernkomponist nicht zu erfassen; um dies zu können, hätte er selbst aus dem Geiste und den Anschauungen des Volkes schaffen, d. h. im Grunde selbst Volk sein müssen. Nur das Sonderliche konnte er fassen, in welchem sich ihm die Besonderheit des Volkstümlichen kundgibt, und dies ist das Nationale . Die Färbung des Nationalen, in den höheren Ständen bereits gänzlich verwischt, lebte nur noch in den Teilen des Volkes, die an die Scholle des Feldes, des Ufers oder des Bergtales geheftet, von allem befruchtenden Austausch ihrer Eigentümlichkeiten zurückgehalten worden waren. Nur ein starr und stereotyp Gewordenes fiel daher jenen Ausbeutern in die Hände, und in diesen Händen, die – um es nach luxuriöser Willkür verwenden zu können – ihm erst noch die letzten Fasern seiner Zeugungsorgane ausziehen mußten, konnte es nur zum modischen Kuriosum werden. Wie man in der Kleidermode jede beliebige Einzelnheit fremder, bisher unbeachteter Volkstrachten zu unnatürlichem Ausputze verwendete, so wurden in der Oper einzelne, vom Leben verborgener Nationalitäten losgelöste Züge in Melodie und Rhythmus auf das scheckige Gerüste überlebter, inhaltsloser Formen gesetzt.
    Einen nicht unwesentlichen Einfluß mußte dieses Verfahren jedoch auf das Gebaren dieser Oper ausüben, den wir jetzt näher zu betrachten haben: nämlich die Veränderung in dem Verhältnisse der darstellenden Faktoren der Oper zueinander, die, wie erwähnt, als »Emanzipation der Massen« aufgefaßt worden ist.

[ IV ]
    Jede Kunstrichtung nähert sich ganz in dem Grade ihrer Blüte, als sie das Vermögen zu dichter, deutlicher und sicherer Gestaltung gewinnt. Das Volk, das im Anfange sein Staunen über die weithin wirkenden Wunder der Natur in den Ausrüfen lyrischer Ergriffenheit äußert, verdichtet, um den staunenerregenden Gegenstand zu bewältigen, die weitverzweigte Naturerscheinung zum Gott, und den Gott endlich zum Helden. In diesem Helden, als dem gedrängten Bilde seines eigenen Wesens, erkennt es sich selbst, und seine Taten feiert es im Epos, im Drama aber stellt es selbst sie dar. Der tragische Held der Griechen schritt aus dem Chor heraus und sprach zu ihm zurückgewandt: »Seht, so tut und handelt ein Mensch; was ihr in Meinungen und Sprüchen feiertet, das stelle ich euch als unwiderleglich wahr und notwendig dar.« – Die griechische Tragödie faßte in Chor und Helden das Publikum und das Kunstwerk zusammen: dieses gab sich in ihr mit dem Urteile über sich – als gedichtete Anschauung – zugleich dem Volke, und genau in dem Grade reifte das Drama als Kunstwerk, als das verdeutlichende Urteil des Chores in den Handlungen der Helden selbst sich so unwiderleglich ausdrückte, daß der Chor von der Szene ab ganz in das Volk zurücktreten und dafür als belebender und verwirklichender Teilnehmer der Handlung – als solcher – selbst behilflich werden konnte. Shakespeares Tragödie steht insofern unbedingt über der griechischen, als sie für die künstlerische Technik die Notwendigkeit des Chores vollkommen überwunden hatte. Bei Shakespeare ist der Chor in lauter an der Handlung persönlich beteiligte Individuen aufgelöst, welche für sich ganz nach derselben individuellen Notwendigkeit ihrer

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