Oper und Drama
Meinung und Stellung handeln, wie der Hauptheld, und selbst ihre scheinbare Unterordnung im künstlerischen Rahmen ergibt sich nur aus den ferneren Berührungspunkten, in denen sie mit dem Haupthelden stehen, keineswegs aber aus einer etwa prinzipiellen technischen Verachtung der Nebenpersonen; denn überall da, wo die selbst untergeordnetste Person zur Teilnahme an der Haupthandlung zu gelangen hat, äußert sie sich ganz nach persönlich charakteristischem, freiem Ermessen.
Wenn die sicher und fest gezeichneten Persönlichkeiten Shakespeares im weiteren Verlaufe der modernen dramatischen Kunst immer mehr von ihrer plastischen Individualität verloren und bis zur bloßen stabilen Charaktermaske ohne alle Individualität herabsanken, so ist dies dem Einflusse des ständisch uniformierenden Staates zuzuschreiben, der das Recht der freien Persönlichkeit mit immer tödlicherer Gewalt unterdrückte. Das Schattenspiel solcher innerlich hohlen, aller Individualität baren Charaktermasken ward die dramatische Grundlage der Oper. Je inhaltsloser die Persönlichkeiten unter diesen Masken waren, desto geeigneter erachtete man sie zum Singen der Opernarie. »Prinz und Prinzessin« – das ist die ganze dramatische Achse, um die sich die Oper drehte, und – bei Licht besehen – jetzt noch dreht. Alles Individuelle konnte diesen Opernmasken nur durch den äußeren Anstrich kommen, und endlich mußte die Besonderheit der Lokalität des Schauplatzes ihnen das ersetzen, was ihnen innerlich ein für allemal abging. Als die Komponisten alle melodische Produktivität ihrer Kunst erschöpft hatten und vom Volke sich die Lokalmelodie erborgen mußten, griff man endlich auch zum ganzen Lokale selbst: Dekorationen, Kostüme und das, was diese auszufüllen hatte, die bewegungsfähige Umgebung – der Opernchor , ward endlich die Hauptsache, die Oper selbst, welche von allen Seiten ihr flimmerndes Licht auf »Prinz und Prinzessin« werfen mußte, um die armen Unglücklichen am kolorierten Sängerleben zu erhalten.
So war denn der Kreislauf des Dramas zu seiner tödlichen Schmach erfüllt: die individuellen Persönlichkeiten, zu denen einst der Chor des Volkes sich verdichtet hatte, verschwammen in buntscheckige, massenhafte Umgebung ohne Mittelpunkt. Als diese Umgebung gilt uns in der Oper der ganze ungeheure szenische Apparat, der durch Maschinen, gemalte Leinwand und bunte Kleider uns als Stimme des Chores zuschreit: »Ich bin Ich, und keine Oper ist außer mir!«
Wohl hatten schon früher edle Künstler des Schmuckes des Nationalen sich bedient; nur da aber vermochte es einen reizenden Zauber auszuüben, wo es eben nur als gelegentlich erforderlicher Schmuck einem durch charakteristische Handlung belebten, dramatischen Stoffe beigegeben und ohne alle Ostentation eingefügt war. Wie trefflich wußte Mozart seinem »Osmin« und seinem »Figaro« ein nationales Kolorit zu geben, ohne in der Türkei und in Spanien, oder gar in Büchern nach der Farbe zu suchen. Jener »Osmin« und jener »Figaro« waren aber wirkliche, von einem Dichter glücklich entworfene, vom Musiker mit wahrem Ausdrucke ausgestattete und vom gesunden Darsteller gar nicht zu verfehlende, individuelle Charaktere. Die nationale Zutat unserer modernen Opernkomponisten wird aber nicht auf solche Individualitäten verwandt, sondern sie soll dem an sich ganz Charakterlosen eine irgendwie charakteristische Unterlage, zu Belebung und Rechtfertigung einer an und für sich ganz gleichgültigen und farblosen Existenz, erst geben. Die Spitze, auf die alles gesunde Volkstümliche ausläuft, das rein menschlich Charakteristische, ist in unserer Oper von vornherein als farblose, nichtsbedeutende Ariensänger-Maske verbraucht, und diese Maske soll nun durch den Widerschein der umgebenden Farbe nur künstlich belebt werden, weshalb denn auch diese Farbe der Umgebung in den allergrellsten und schreiendsten Klecksen aufgetragen wird.
Um die öde Szene um den Ariensänger herum zu beleben, hat man das Volk , dem man seine Melodie abgenommen hatte, selbst endlich auf die Bühne gebracht; aber natürlich konnte das nicht das Volk sein, das jene Weise erfand, sondern die gelehrig abgerichtete Masse , die nun nach dem Takte der Opernarie hin- und hermarschierte. Nicht das Volk brauchte man, sondern die Masse , d. h. den materiellen Überrest von dem Volke, dem man den Lebensgeist ausgesaugt hatte. Der massenhafte Chor unserer modernen Oper ist nichts anderes als die zum Gehen und Singen
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