Operation Amazonas
davongetragen, welche die Medizinmänner in São Gabriel heilen können. Ich bitte dich um die Erlaubnis, sie ins Stadthospital bringen zu dürfen.«
Der Dorfschamane trat vor. Nathan fürchtete schon, er werde darauf bestehen, das Mädchen mit seiner eigenen Medizin zu behandeln. Stattdessen legte er Nate die Hand auf die Schulter. »Unsere kleine Schwester wurde von unserem neuen Jako vor der Susuri gerettet. Wir sollten auf die Götter hören, die ihn zu ihrem Erretter bestimmt haben. Ich kann nichts mehr für sie tun.«
Nathan wischte sich das Gift von der Wange, wobei er darauf achtete, damit nicht an offene Schnittwunden zu kommen, dann dankte er dem Dorfältesten. Der Schamane hatte bereits mehr als genug getan. Hätte er das Mädchen nicht mit seiner Naturmedizin im letzten Moment aus der Bewusstlosigkeit aufgeweckt, wäre er jetzt tot. Als Nächstes wandte Nathan sich an Takaho. »Ich möchte dich bitten, mir für die Reise dein Kanu zu borgen.«
»Was mir gehört, gehört auch dir«, antwortete Takaho. »Ich werde dich nach São Gabriel begleiten.«
Nathan nickte. »Wir müssen uns beeilen.«
Tama wurde auf eine Trage aus Bambusstäben und Palmwedeln gebettet und ins Kanu gelegt. Takaho, mittlerweile mit Trägertop und Nike-Shorts bekleidet, bedeutete Nathan, sich in den Bug des Einbaums zu setzen, dann stieß er sich mit dem Ruder ab und steuerte das Kanu in die Mitte des Rio Negro. Die Strömung würde sie geradewegs nach São Gabriel bringen.
Die zehn Meilen legten sie schweigend zurück. Nathan sah hin und wieder nach Tama, aufmerksam beobachtet von deren besorgtem Vater. Das Mädchen hatte wieder das Bewusstsein verloren und stöhnte hin und wieder leise auf. Nathan hüllte das Kind in eine Decke.
Takaho steuerte das kleine Kanu geschickt durch die Stromschnellen und um umgestürzte Baumstämme herum. Mit geradezu unheimlich anmutendem Gespür fand er stets die rascheste Strömung.
Während das Kanu flussabwärts getragen wurde, kamen sie an einer Gruppe von Indianern eines Nachbardorfes vorbei, die mit Speeren Fische jagten. Nate beobachtete, wie ein Stück weiter flussaufwärts eine Frau in einem Kanu ein dunkles Pulver ins Wasser streute. Er wusste, was sie da tat. Es handelte sich um gemahlene Ayaeya-Liane. Das im Wasser gelöste Pulver betäubte die Fische. Sie würden an die Oberfläche steigen und von den Männer aufgespießt und eingesammelt werden. Diese Methode des Fischfangs war im ganzen Amazonasgebiet gebräuchlich.
Wie lange aber würden sich diese Traditionen noch halten? Eine Generation oder zwei? Dann wäre diese Kunst auf ewig verloren.
Nathan lehnte sich zurück, wohl wissend, dass er nicht alle Schlachten gewinnen konnte. Ob zum Guten oder zum Schlechten, die Zivilisation würde ihren Vormarsch fortsetzen.
Während sie so dahinglitten, musterte Nate die dichten Laubwände, welche beide Ufer säumten. Ringsumher summte, zirpte, kreischte, trompetete und knurrte das Leben.
An beiden Ufern kreischten Rudel roter Brüllaffen und sprangen auf den Ästen drohend auf und ab. An den flachen Stellen spießten weiß gefiederte Rohrdommeln mit ihren orangefarbenen Schnäbeln Fische auf, während die flachen Schnauzen der Kaimane die Stellen anzeigten, wo die Amazonaskrokodile Nester angelegt hatten. Und die Luft war erfüllt von Mückenschwärmen und Stechfliegen, die über jede unbedeckte Hautstelle herfielen.
Hier herrschte der Dschungel in all seinen Erscheinungsformen. Er schien endlos, undurchdringlich, voller Geheimnisse. Er zählte zu den letzten Flecken auf diesem Planeten, die noch nicht gänzlich erforscht waren. Noch immer gab es hier riesige Gebiete, die nie ein Mensch betreten hatte. Diese Aura des Geheimnisvollen hatte Nathans Eltern bewegen, ihr Leben im Dschungel zu verbringen, und dabei hatten sie ihren Sohn mit ihrer Liebe zum großen Wald schließlich angesteckt.
Als Nathan die ersten Zivilisationsspuren bemerkte, wusste er, dass sie sich São Gabriel näherten. Am Flussufer tauchten die ersten von Bauern gerodeten kleinen Lichtungen auf. Kinder wirkten und riefen, während sie mit dem Kanu an ihnen vorbeifuhren. Sogar die Geräusche des Urwalds schienen hier gedämpft, vertrieben vom Getöse der modernen Welt: dem Brummen der Traktoren auf den Feldern, dem Surren der vorbeirasenden Motorboote, der blechernen Radiomusik, die aus einer Hütte schallte.
Als sie um eine Flussbiegung bogen, endete der Dschungel übergangslos. Das kleine Städtchen São Gabriel ähnelte einem
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