Operation Amazonas
Schwester und ein großer Krankenpfleger dazugekommen; die Notfallroutine lief an.
»Bereiten Sie eine Infusion und einen Beutel mit RingerLaktat-Lösung vor«, sagte Kelly scharf. Sie tastete am dünnen Arm des Mädchens nach einer geeigneten Ader. Mit geübter Hand stach sie die Kanüle ein und injizierte langsam das Medikament.
»Das ist Valium«, erklärte sie. »Das sollte den Krampf so lange lösen, bis wir herausgefunden haben, was mit ihr nicht stimmt.«
Die Wirkung setzte augenblicklich ein. Tamas Krämpfe flauten ab. Sie hörte auf, um sich zu schlagen, und sank entspannt aufs Bett. Nur die Augenlider und die Mundwinkel zuckten noch. Kelly untersuchte mit einem Lämpchen die Pupillen.
Der Krankenpfleger schob Nate beiseite, machte sich an Tamas anderem Arm zu schaffen und bereitete einen Katheter vor.
Nate blickte dem Mann über die Schulter und sah die Angst in Takahos Augen.
»Was ist denn passiert?«, erkundigte sich die Ärztin, während sie das Mädchen untersuchte.
Nathan schilderte ihr den Angriff der Schlange. »Seitdem war sie nur zeitweise bei Bewusstsein. Der Dorfschamane hat es geschafft, sie vorübergehend wieder aufzuwecken.«
»Sie hat zwei gebrochene Rippen und Hämatome, aber den Anfall beziehungsweise die Krämpfe kann ich mir nicht erklären. Hatte sie auf dem Herweg auch schon Krämpfe?«
»Nein.«
»Gibt es Epilepsie in der Familie?«
Nate wandte sich an Takaho und wiederholte die Frage auf Yanomami.
Takaho nickte. »Ah-de-me-nah gunti.«
Nate runzelte die Stirn.
»Was hat er gesagt?«, fragte Kelly.
» Ah-de-me-nah bedeutet Zitteraal. Gunti heißt Krankheit.«
»Zitteraalkrankheit?«
Nate nickte. »Das hat er gesagt. Aber das ergibt keinen Sinn. Wer von einem Zitteraal angegriffen wird, bekommt meistens Krämpfe, aber das ist eine unmittelbare Reaktion. Und Tama war seit dem Angriff der Schlange nicht mehr im Wasser. Vielleicht ist Zitteraalkrankheit die Yanomami-Bezeichnung für Epilepsie.«
»Wurde sie deswegen behandelt? Hat sie Medikamente bekommen?«
Nate übersetzte Takahos Antwort. »Der Dorfschamane hat sie einmal wöchentlich mit Hanfrauch behandelt.«
Kelly seufzte. »Also hat sie keine Medikamente bekommen. Kein Wunder, dass der Stress des drohenden Ertrinkens einen so schweren Anfall ausgelöst hat. Was halten Sie davon, mit dem Vater im Wartezimmer Platz zu nehmen? Ich werde versuchen, den Anfall mit stärkeren Medikamenten zu beenden.«
Nate blickte zum Bett. Tama rührte sich nicht. »Glauben Sie wirklich, sie hat das nötig?«
Kelly blickte ihm in die Augen. »Allerdings.« Sie machte ihn auf die hartnäckigen Gesichtszuckungen aufmerksam. »Sie befindet sich in einem epileptischen Zustand, sozusagen im Dauerkrampf. Die meisten Patienten, die einen derart langen Anfall erleiden, wirken wie betäubt und unkoordiniert. Zwischendurch kommt es immer wieder zu stärkeren Ausbrüchen. Wenn wir nichts unternehmen, wird sie sterben.«
Nate schaute das kleine Mädchen an. »Wollen Sie damit sagen, sie hat die ganze Zeit über Krämpfe?«
»Ihrer Schilderung nach zu schließen, ja.«
»Aber der Dorfschamane hat sie vorübergehend aus der Erstarrung aufgeweckt.«
»Das zu glauben fällt mir schwer.« Kelly wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Um diesen Zyklus zu durchbrechen, fehlt es ihm an den erforderlichen Medikamenten.«
Nate fiel ein, dass das Mädchen aus einem Kürbisgefäß getrunken hatte. »Doch, die hat er. Sie sollten Stammesschamanen nicht mit Medizinmännern verwechseln. Ich beschäftige mich schon jahrelang mit ihnen. Und in Anbetracht der Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, sind sie ausgesprochen tüchtig.«
»Auf jeden Fall haben wir hier wirksamere Medikamente. Richtige Medizin.« Sie wies erneut mit dem Kinn auf Takaho. »Wie wär’s, wenn Sie den Vater ins Wartezimmer bringen würden?« Kelly wandte sich an den Pfleger und die Schwestern, ohne ihn weiter zu beachten.
Nate gehorchte widerstrebend. Schon seit Jahrhunderten blickten die Vertreter der westlichen Medizin voller Verachtung auf die Errungenschaften des Schamanismus herab. Nate geleitete Takaho unter gutem Zureden ins Wartezimmer. Er sagte ihm, er solle sich hinsetzen und warten, dann wandte er sich zur Tür.
Zornig trat er in die Hitze des Amazonas hinaus. Ob die amerikanische Ärztin ihm nun glaubte oder nicht, er hatte mit angesehen, wie der Schamane das Mädchen aufgeweckt hatte. Wenn es jemanden gab, der eine Erklärung für Tamas geheimnisvolle Krankheit hatte, so wusste er, wo dieser
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