Operation Beirut
Gefühle kehrten jetzt in Levi zurück, als wäre eine alte Wunde in seinem Gehirn wieder aufgebrochen. Levi machte an diesem Tag einen Spaziergang und sah eine Stadt voller Menschen mit roten Augen, die den Tag mit Schluchzen begonnen hatten und noch immer vom Schmerz überwältigt waren. Auf den Parkbänken entlang der Jabotinsky-Straße saßen einige alte Leute und weinten. Vor der Deutschen Botschaft hatte sich spontan eine Menschenmenge zusammengefunden. Levi hörte sie schon von weitem. Die Leute sangen ein hebräisches Lied, «Am Yisrael Hai», Das Volk Israels soll leben. Jemand hatte die Ziffer elf auf den Bürgersteig geschrieben; die Zahl der Opfer. Ein anderer hatte elf Kerzen mitgebracht. Andere kamen mit Plakaten. «Nie wieder»; «Warum keine olympische Solidarität für Juden?»; «Auge um Auge». Eine alte Frau verteilte schwarze Armbinden. Levi nahm eine und streifte sie sich über den Arm.
Was war es, was das Land so erschüttert hatte?, fragte sich Levi, als er zu seinem Büro zurückging. Die Zahl der Menschen, die ums Leben gekommen waren, konnte es nicht sein. In den Annalen des Terrors gegen den Staat Israel waren elf Opfer keine einzigartige Tragödie, sondern nichts weiter als ein Steinchen in einem sich ausbreitenden Mosaik der Gewalt. Es war auch nicht die Brutalität der Morde. In einem Kugelhagel umzukommen war schließlich nicht die schlimmste Art zu sterben.
Was war es dann, was Levi und alle, denen er an diesem Tag begegnete, durch die Ereignisse in München so niedergeschmettert sein ließ?
Vielleicht waren es die Unschuld und die Wehrlosigkeit der Opfer. Sie waren Athleten gewesen: Symbole der einfachsten und reinsten Tugenden der Nation. Die Stärksten, die Schnellsten, die am wenigsten von den Verderbtheiten des Lebens Befleckten. Sie waren nach München gekommen, in dem Glauben, dass Juden 27 Jahre nach dem Holocaust ohne Angst nach Deutschland kommen konnten. Sie waren einer Einladung gefolgt, zu kommen und mit anderen Nationen dieser Welt in Wettstreit zu treten. Und geendet hatte es mit einem Haufen jüdischer Leichen.
Levi ging zurück in sein Büro, todunglücklich; er wollte mit jemandem sprechen, und er wollte sich verstecken. Im Büro herrschte eine trostlose Stimmung. Überall standen kleine Gruppen beisammen, die sich gedämpft unterhielten; Sekretärinnen starrten ausdruckslos auf ihre Schreibmaschinen. Ich sollte etwas tun, dachte sich Levi. Ich sollte nicht hier herumsitzen und Trübsal blasen. Er ging die Akten durch und stellte rasch ein Profil der Anführer des Schwarzen September zusammen. Es war eine Opfergabe an den rachsüchtigen Gott Abrahams und Isaaks. Er nahm das Ganze mit nach oben, wo die Chefs ihre Büros hatten. Der Schreibtisch an der Rezeption war unbesetzt; also ging Levi den Korridor hinunter, bis er an die Tür des Stellvertretenden Direktors, Avraham Cohen, kam. Die Tür stand offen. Cohen saß hinter seinem Schreibtisch, die Augen geschlossen. Sein Kopf bewegte sich sachte vor und zurück. Cohen betete. An seinem Arm sah Levi eine schwarze Binde. Schließlich hob Cohen den Kopf. Seine Augen waren gerötet und von dunklen Ringen gesäumt.
«Was wollen Sie?», fragte er. Seine Stimme hatte ihren üblichen Biss verloren.
«Ich dachte mir, das hier könnte nützlich sein», sagte Levi und reichte ihm die Akte über die Anführer des Schwarzen September.
«Wissen Sie, wo die Schweine stecken?»
«Von einigen weiß ich es», antwortete Levi.
Cohen sagte nichts. Die buschigen Augenbrauen, die sonst so lebhaft waren, rührten sich nicht. Levi sah, dass er irgendetwas musterte, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Es war ein Zeitungsartikel, der die Namen der elf Geiseln nannte – jetzt waren es elf – und von jedem eine kurze Biographie brachte.
«Das ist die Geschichte unseres Volkes», sagte Cohen.
«Ja», sagte Levi. «Ich weiß.»
Cohen schien nicht zu hören.
«Wahrhaftig», sagte er. «Das ist die Geschichte Israels. Diese jungen Leute in München waren eine Landkarte dessen, was wir sind.»
«Wie meinen Sie das?», fragte Levi.
«Hören Sie», sagte Cohen und nahm die Liste vom Schreibtisch. «Lassen Sie mich Ihnen sagen, wer diese Jungen waren. Ein Ringer, der erst vor drei Monaten aus der Sowjetunion nach Israel gekommen war. Ein weiterer Ringer aus Russland. Ein Trainer der Schützen aus Rumänien. Ein Gewichtheber aus Polen. Ein Trainer der Ringer aus Rumänien. Können Sie noch mehr vertragen? Eh? Wollen Sie noch mehr
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