Operation Ocean Emerald
die Rettungsboote angebracht waren, stützte sich ein fünfzigjähriger, braun gebrannter Mann auf die Reling. Er hatte lockiges Haar, trug eine Hornbrille und ein Seidentuch, das er sich lässig um den Hals gebunden hatte.
Der Mann führte eine Hand zu dem Tuch und prüfte, ob es noch richtig saß. Es verbarg eine schlimme Narbe, die er 1988 bei einem bewaffneten Raubüberfall in Marseille davongetragen hatte. Drei Geiseln waren ums Leben gekommen, aber dem Mann war es gelungen, trotz intensiver Fahndung zu entkommen. Es war seine erste große Operation gewesen, brutal und mit viel Blutvergießen, aber effektiv und intelligent geplant.
Als Nächstes prüfte der Mann – sein Name war Philippe Delacroix –, ob seine Brille auch gerade auf der Nase saß. Was den äußeren Eindruck betraf, so verschmolz Delacroixperfekt mit dem Ambiente der Ocean Emerald. Er sah aus, als wäre er hier, um mit den anderen Passagieren die neuen Erlebnisse zu teilen, die auf der Kreuzfahrt geboten wurden.
Nichts verriet, was der Mann in Wirklichkeit vorhatte. Nach der Abfahrt des mit Sprengstoff beladenen Schiffes aus Helsinki würde er seinen tausend Mitreisenden und den über fünfhundert Mann Besatzung ein Erlebnis verschaffen, wie sie es sich nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen ausgemalt hätten.
Aufmerksam blickte Delacroix auf den Pier hinunter, wo die Touristen aus den Bussen strömten. Ein Teil von ihnen hatte eine Stadtrundfahrt in Helsinki gemacht, mit Besuchen in der Felsenkirche, am Sibelius-Denkmal und im Kiasma, dem Museum für moderne Kunst, andere hatten Ausflüge nach Hvitträsk oder nach Porvoo unternommen.
Die meisten Kreuzfahrtpassagiere waren in Amsterdam an Bord gekommen, aber auch hier in Helsinki kamen einige neue Reisende hinzu, die sich auf die Fahrt von der Ostsee ins Mittelmeer begaben. Einen von ihnen versuchte Delacroix zu erspähen.
Über ihm war eine Überwachungskamera in der Deckkonstruktion versteckt. Er hatte sie bemerkt, ließ sich aber nicht davon stören. Es war nicht verboten, sich auf die Reling zu stützen und die Aussicht zu genießen.
Außerdem konnte eine Überwachungskamera keine Gedanken lesen.
Die Aufnahmen der Kamera waren im Kontrollraum des Schiffes zu sehen, der sich in der Nähe der Haupthalle hinter dem Purserbüro befand. Vor der Wand mit den Monitoren stand ein Computer auf dem Tisch, dessen Flachbildschirm der Sicherheitschef nicht aus den Augen ließ.
Craig Thomson wusste, dass der entscheidende Moment näher rückte. Die New York Yankees führten gegen Minnesota 3:2. Das Bild der Internetübertragung war unscharf und zuckte ab und zu, aber das verringerte die Spannung kein bisschen.
Trotzdem warf Thomson zwischendurch einen pflichtbewussten Blick auf die Bilder der Sicherheitskameras, die von verschiedenen Bereichen des Schiffes gesendet wurden. Was die Sicherheit betraf, waren Landgänge immer mit Risiken behaftet, denn wenn das Schiff im Hafen lag, konnte zum Beispiel jemand versuchen, illegal an Bord zu kommen. Allerdings war Helsinki nicht Casablanca oder Cartagena.
Thomson hatte seinen diensthabenden Mitarbeiter zu einer der Bordboutiquen geschickt, weil dort falscher Alarm ausgelöst worden war. Der Kollege sollte die Alarmanlage neu einstellen und Thomson konnte inzwischen in Ruhe die entscheidende Phase des Baseballspiels verfolgen. Die Yankees ergatterten ganz knapp einen Run und Thomson schlug die Hände zusammen. Das war eine der stärksten Gefühlsäußerungen, zu denen der Mann mit dem zumeist versteinerten Gesichtsausdruck fähig war.
Während Thomson ganz woandershin schaute, sah man auf einem der Monitore, wie auf dem Deck mit den Rettungsbooten eine sportliche Frau mit kurzen Haaren auf einen Mann mit Seidenhalstuch zuging, der an der Reling stand.
Delacroix richtete sich auf und korrigierte intuitiv den Sitz seines Halstuchs, als Juliette du Pont, die als neuer Passagier in Helsinki an Bord gekommen war, endlich neben ihm stand und ebenfalls die Aussicht betrachtete.
»Für die Nacht ist starker Wind angekündigt«, sagte Juliette leise. »Schwerer Sturm sogar.«
Delacroix spürte die vertraute Wärme in seinen Adern. Die Aktion begann – es war die anspruchsvollste und die wichtigste seines Lebens. »Ich fürchte, der Sturm wird noch heftiger ausfallen, als wir Passagiere uns das vorstellen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Juliette.
»Juliette du Pont« war natürlich ein Deckname, aber er passte zu der Französin,
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