Operation Overkill
Laufe des Vormittags kam auch er in den Gold Room. Nach einem längeren Telefongespräch zwischen dem Verteidigungsminister und dem Präsidenten beschlossen die Vereinigten Stabschefs, die Alarmbereitschaft der US-Streitkräfte auf DEFCON THREE zu erhöhen.
Wegen des Zeitunterschieds zwischen Moskau und der amerikanischen Ostküste – immerhin acht Stunden – und weil RAVEN den Elften des Monats als Vollzugsdatum genannt hatte, setzten die Vereinigten Stabschefs offiziell einen Zeitpunkt für den Beginn des Countdowns an. Er sollte am Neunten um sechs Uhr Eastern Standard Time eingeleitet werden, da man davon ausging, dass der Angriff am Elften um acht Uhr osteuropäischer Zeit – also um 16 Uhr EST – vonstatten gehen würde. Bis dahin waren es noch genau vierunddreißig Stunden. Die Uhr lief.
526
Regent’s Park, London
Als die Ampel auf Grün umschaltete, setzte sich der schwarze Mercedes wieder in Bewegung, fuhr mit hoher Geschwindigkeit die Park Road entlang und hielt mit quietschenden Reifen am westlichen Ende der Hanover Gardens.
»Warten Sie bitte«, sagte Abrahams zu dem Fahrer und ging mit forschen Schritten durch die Hanover Gardens in Richtung Regent’s Park. Er war ein paar Meter vor der zweiten Fußgängerbrücke, als er die schlanke Gestalt neben dem Holme sah. Piers Taylor fütterte keine Enten. Er ging neben dem Boating Lake auf und ab und kam sofort auf Abrahams zu, als dieser von der Fußgängerbrücke trat.
»Guten Morgen, Piers«, sagte Roger Abrahams.
»Es ist schon fast mittags«, erwiderte Taylor. »Danke, dass Sie gekommen sind. Hatten Sie Schwierigkeiten mit meinem kleinen Code?«
Abrahams schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »›Anatidae‹ – das ist der lateinische Ordnungsname für eine Familie der Schwimmvögel, die man gemeinhin als Enten bezeichnet. Außerdem habe ich Ihre Stimme erkannt.«
Taylor grinste kurz.
»Also«, fragte Abrahams, »was gibt’s?«
Piers Taylor blickte sich um und überzeugte sich davon, dass niemand in Hörweite war. »Es geht um diese Angelegenheit, über die wir mit Ihrem Kollegen gesprochen haben«, erklärte er. »Wir meinen jetzt zu wissen, worum es geht.«
527
Französisches Innenministerium,
Rue de Saussaies, Paris
Jetzt waren alle Anwesenden ganz Ohr. »Vor etwa vier Jahren«, fuhr Richter fort, »ist in Russland irgendetwas geschehen. Wir wissen nicht, was, aber es führte dazu, dass kein rotes Quecksilber mehr ins Ausland verkauft wurde. Die natürliche Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, lautete, dass die gesamte Produktion für ein neues Projekt verwendet wurde, ein Projekt, dessen Ergebnis sich jetzt abzeichnet. Wir glauben, dass die Russen aus irgendeinem Grund meinten, sie müssten eine große Anzahl Neutronenwaffen mit der Sprengkraft von strategischen Atombomben herstellen, ohne dafür allerdings waffenfähiges Plutonium zu verwenden. Vermutlich, weil sie es aus bereits vorhandenen Kernwaffen hätten ausbauen müssen oder weil die Herstellung zu lange gedauert und zu viel Aufsehen erregt hätte. Außerdem brauchten sie das Plutonium für etwas anderes, auf das ich gleich zu sprechen kommen werde. Der verschwundene Hügel beweist eindeutig, dass die Neutronenwaffe funktioniert, aber wir waren uns ziemlich sicher, dass es sich nur um den letzten in einer ganzen Reihe von Tests handelte. Allerdings war es die erste überirdische Erprobung, die die Russen durchführten. Die Sprengkraft der Waffe wurde auf mindestens fünf Megatonnen geschätzt. Das heißt, dass es sich um die bei weitem schwerste Neutronenbombe handelte, die je gezündet wurde, und somit um eine strategische Waffe. Aber damit waren im-528
mer noch zwei Fragen offen. Erstens, was nützt es den Russen, wenn sie eine für strategische Einsätze geeignete Neutronenbombe entwickelt haben? Sie hätte zwar eine höhere Sprengkraft als sämtliche ERWs in unseren Arsenalen, aber wir konnten nicht erkennen, inwieweit sie dadurch im Falle eines Krieges mit dem Westen einen Vorteil hätten. Selbst wenn die Russen ihre Interkontinentalraketen mit den neuen Sprengköpfen bestücken und sie auf den Westen abfeuern sollten, würden die Amerikaner zurückschlagen, ehe die Raketen den Atlantik überquert haben, und die Russen würden unfassbare Verluste erleiden. Sicher, auch auf dem amerikanischen Kontinent könnten womöglich mehr Menschen ums Leben kommen, als man erwartet hat, aber davon hätten die hundert Millionen verbrannten und verstrahlten Russen wenig.
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