Operation Romanow
blutenden Arm, stand mühsam auf und untersuchte die Fleischwunde. »Es … es tut mir leid, Kommissar. Ich befürchtete, er würde entkommen.«
»Wenn er tot ist, bezahlen Sie das mit Ihrem Leben!« Jakow steckte den Revolver in sein Holster und stapfte durch den Schnee an den Rand der Grube. Der Gefangene lag ausgestreckt auf einem Berg verrotteter Leichen. Seine Augen waren geschlossen, und aus einer Schusswunde an seinem Oberkörper rann Blut. In der dreckigen Gefängniskleidung, mit dem ausgemergelten Körper und dem unrasierten Gesicht bot er einen erbärmlichen Anblick. Jakow sah schwache weiße Nebelschwaden über den Lippen des Mannes aufsteigen.
»Er lebt! Holt ihn da raus und seid vorsichtig«, fuhr er die Wachen an. »Wenn er stirbt, mache ich euch alle dafür verantwortlich.«
Ein halbes Dutzend Wachen rutschte in die Grube hinunter. Sie hoben den Gefangenen heraus und legten ihn in den Schnee. Jakow kniete sich neben den Mann und fühlte dessen schwachen Puls. »Gib mir deinen Hosengürtel«, sagte er zu einem Wachmann.
»Kommissar?«
»Du hast gehört, was ich gesagt habe! Und ich brauche ein Bajonett.«
Die Wachen führten den Befehl sofort aus. Mithilfe des Bajonetts schnitt Jakow die Kleidung des Gefangenen auf und legte die blutende Wunde frei. Dann riss er sich den Schal vom Hals und faltete den Stoff sorgfältig zu einem kleinen Bündel zusammen, das er als Kompresse benutzte. Den Gürtel schnürte er um den Oberkörper des Mannes, um die Blutung zu stillen.
»Lassen Sie ihn in meinem Zug zurück zum Lager bringen«, befahl er dem Feldwebel und schnippte mit den Fingern. »Und holt den Sanitäter! Ich will, dass dieser Mann am Leben bleibt.«
Mit mürrischer Miene presste der ukrainische Feldwebel noch immer die Hand auf seine Wunde. »Der Gefangene hat versucht zu fliehen. Das ist ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wird.«
»Ich entscheide, ob er lebt oder stirbt. Befolgen Sie den Befehl, sonst trifft Sie gleich die nächste Kugel.«
»Ja, Kommissar Jakow.«
Der Feldwebel gab den Befehl an seine Männer weiter. Sie trugen den Verwundeten zum Zug. Jakow warf einen Blick auf die Blutspuren des Gefangenen im Schnee. Er kniete sich hin und berührte mit den Fingerspitzen die roten Flecken. Als er wieder aufstand, war sein Gesicht wutverzerrt.
»Ich verstehe etwas nicht, Kommissar«, sagte der Feldwebel verwirrt. »Warum sind Sie eingeschritten, um diesem Verräter zu helfen? Er macht nichts als Ärger!«
Jakow sah zu, wie die Wachleute den Verletzten an eine Gruppe Rotgardisten aus dem Zug übergaben. »Der Gefangene hat einen Namen.«
Die Augen des Feldwebels funkelten verächtlich. »Juri Andrew, ein ehemaliger Hauptmann des zaristischen Heeres und ein überführter Staatsfeind. Kennen Sie ihn, Kommissar Jakow?«
»Er ist mein Bruder.«
3. KAPITEL
Deutschland
Über dreitausend Kilometer entfernt war die gesamte Nordseeküste vor Bremerhaven an diesem Morgen in dichten Nebel gehüllt.
Eine atemberaubend schöne Frau stand an Deck der Frachtfregatte Marie-Ann , deren Bug den Nebel durchbrach und geradewegs auf den Hafen von Bremerhaven zusteuerte.
Mit ihrem langen kastanienbraunen Haar, das bis auf ihre Schultern fiel, hätte man Lydia Ryan in einer anderen Zeit für eine Piratenbraut halten können, die an der Reling ihres Schiffes stand. Doch die zweckmäßige, warme Kleidung, die sie trug – ein langer schwarzer Wollrock, Lederstiefel, eine Bluse, die ihrer Figur schmeichelte, und eine kurze Jacke – widerlegten diesen Eindruck.
Mit der blassen Haut und den grünen Augen ähnelte sie einer Spanierin, was im Westen Irlands keine Seltenheit war. Dieses südländische Aussehen ging auf die Basken aus Nordspanien zurück, die sich vor Tausenden von Jahren an der Westküste des Landes angesiedelt hatten.
Die Marie-Ann bereitete das Anlegemanöver vor. Der Kapitän schaltete den Motor aus, worauf sich die Rotation der Schiffsschraube verlangsamte, bis sie schließlich zum Stillstand kam. Deutsche Heeressoldaten hatten den Hafen abgeriegelt. Lydia Ryans Arbeit an diesem Morgen verlangte größte Geheimhaltung.
Sie erblickte Oberst Horst Ritter, einen deutschen Geheimdienstoffizier, der das Manöver vom Hafendamm aus beobachtete. Er war um die fünfzig und trug eine tadellos gebügelte Uniform, Schweinslederhandschuhe und kniehohe, auf Hochglanz polierte Stiefel. Ritter atmete die salzige Luft tief ein, zwirbelte seinen gewachsten Schnurrbart und erlaubte sich ein Lächeln,
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