Operation Romanow
Gewehrschüssen durch die Straßen hallte.
All diese Dinge entgingen Sorg nicht. Er war viel aufmerksamer als andere ausländische Geschäftsleute, die sich in Sankt Petersburg niedergelassen hatten, weil sie hofften, in dem Chaos des Bürgerkrieges gute Geschäfte zu machen.
Allerdings war Philip Sorg auch kein gewöhnlicher Geschäftsmann.
»Knapp zwei Stunden, wenn wir Glück haben, Herr.« Der Kutscher schlug die Peitsche auf die Flanken der Pferde und folgte der matschigen Landstraße, die aus der Stadt herausführte. Der Atem der großen Tiere kondensierte in der Luft.
»Danke, Genosse.« Sorg tippte an seinen Trilby-Hut und schlug den Kragen seines langen schwarzen Chesterfield-Mantels hoch, um sich gegen die Kälte an diesem Märzmorgen zu schützen.
Die Fahrt hätte mit der Dampflok keine vierzig Minuten gedauert, doch in der vergangenen Nacht hatte die Gewerkschaft der Lokomotivführer einen Streik bis zum heutigen Nachmittag ausgerufen. Daher war Sorg gezwungen, eine Droschke für die Fahrt zu mieten. Als sie an einer Bäckerei mit einer langen Schlange hungriger Menschen vorbeikamen, erregten die Schreie und Rufe seine Aufmerksamkeit.
Sorg beobachtete entsetzt, wie sich zwei hungrige Frauen wegen eines Laibs Brot gegenseitig fast umbrachten. Die Rauferei der beiden Frauen, die sich schlugen, bissen und einander die Haare ausrissen, war schnell entschieden. Die bemitleidenswerte Verliererin, die sich den verletzten Kopf hielt, lief in Tränen aufgelöst davon und zog ihre beiden schreienden Kinder hinter sich her.
Sie verschwanden in der Menschenmenge in den Seitenstraßen, ehe Sorg aus der Droschke steigen und ihnen folgen konnte. Er hätte der armen Frau gerne ein paar Münzen zugesteckt. Es sah so aus, als würden überall in Russland hungernde Menschen in den Abfällen wühlen, um zu überleben.
Das war verständlich. Ein Pfund Butter kostete so viel wie ein Tageslohn. Ein Laib Brot – falls man überhaupt eine geöffnete Bäckerei fand – kostete fast ebenso viel. Die Straßenbahnen fuhren nur unregelmäßig. Inmitten der hungrigen Bevölkerung blühten Prostitution und Diebstahl. Sorg schrieb all das in seinen geheimen Berichten auf, die er nach Washington schickte. Sie enthielten die minutiösen, vertraulichen Details des Lebens in der Stadt, die für einen Spion im Ausland von Bedeutung waren.
Auch ungewöhnliche Dinge wie zum Beispiel die Tatsache, dass sich trotz der Revolution oder gerade deshalb überall ausländische Besucher aufhielten. In den Hotels und Seitengassen drängte sich ein bunt gemischtes Volk. Unter ihnen befanden sich wohlmeinende Helfer, die gekommen waren, um die Lebensmittelknappheit zu lindern, es gab internationale Revolutionäre und Kommunisten, die ganz versessen darauf waren, den Rotgardisten Unterstützung anzubieten, außerdem Zeitungskorrespondenten, die über den Aufruhr im ehemaligen Zarenreich berichteten.
Als Sorgs Droschke eine gute Stunde später durch ein Dorf fuhr, wurde er Zeuge weiterer Unruhen. Ein großes herrschaftliches Haus wurde von einer aufgebrachten Meute geplündert. Bauern schleppten ihre Beute heraus – Stühle und Gemälde, Wandteppiche und sogar Rohrleitungen. Eine gackernde alte Frau hatte einen hölzernen Toilettensitz ergattert und ihn sich wie einen Jahrmarktsgewinn um den Hals gehängt. Die Menge brach bei dem Anblick in Gelächter aus.
Es war allgemein bekannt, dass skandinavische Antiquitätenhändler in der ganzen Stadt auf der Suche nach guten Geschäften waren, seit die prächtigen Häuser der Reichen geplündert wurden. Deren ehemalige Besitzer waren mit dem Schmuck und den Wertsachen, die sie retten konnten, ins Exil geflüchtet.
Diejenigen, denen es gleichgültig war und die noch immer Geld besaßen, vertrieben sich die Zeit in Wirtshäusern, verräucherten Spielkasinos oder Nachtklubs, wo Zigeuner aufspielten. In Sankt Petersburg und Moskau herrschte eine dekadente, ausschweifende Atmosphäre.
»Wir sind da, Herr.«
Als die Pferde schnaubten und die Droschke stehen blieb, erwachte Sorg aus seinen Tagträumen. Er sah sich um. Zarskoje Selo flößte ihm immer wieder Ehrfurcht ein.
Sobald Sorg an Russland dachte, kam ihm diese Stadt in den Sinn, die Zaren seit Katharina der Ersten als Residenz hatten ausbauen lassen. Sie war Zeugnis der herrschaftlichen Eitelkeit und ein atemberaubendes architektonisches Meisterwerk imperialer Größe. Gepflasterte Gässchen, malerische, holzverkleidete Häuser in Bernsteingelb und
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